Aggregat – Kritik
VoD: Alle dürfen mitbestimmen. Marie Wilke führt in Aggregat die Fragilität des demokratischen Systems vor Augen.

„Das periphere Beobachten einer an sich langweiligen Materie“, so hat der Dokumentarist Klaus Wildenhahn das Festhalten von Parteitagen im Stil des Direct Cinema einmal genannt. Das ist gut gemeint von einem, der seine Filme über Arbeit und Engagement stets mit enormem Respekt und Sympathie machte. Auch Marie Wilke beobachtet SPD-Kreisparteitage und Bürgergespräche, Bundestagsführungen und Pegida-Demos, Redaktionssitzungen von taz und Bild-Zeitung. Allseits wird viel gesprochen, hier und da diskutiert. Auch sie nimmt das alles sehr ernst, ihre Wahl der Mittel ist aber deutlich anders: Auf Kommentare verzichtet sie, die Kamera bleibt meist statisch, zurückgenommen und distanziert.
Mit Begriffen und Sätzen arbeiten

Aggregat beginnt am Standort Dresden. Im Infomobil des Bundestages beklagt ein Besucher die fehlende Volksverbundenheit; abstrakt sei die Regierung, es brauche mehr „shake hands“. Ein anderer Mann behauptet, wer in der Bundesregierung sitzt, habe sein Leben lang nicht gearbeitet. Was an diesen Aussagen dran ist, diese Frage ist gewissermaßen der rote Faden des Films. Die Regisseurin sucht in ihm nach dem Haptischen der Politik, fragt sich, wie diese funktioniert, wie darin konkret gearbeitet wird.

Und was für eine langweilige Materie! Auf einem Workshop lernen die Abgeordneten den Umgang mit Provokationen, üben den Bürgerdialog. Politikerinnen und Politiker – ratlos, zögerlich, unsicher, ob sie den einen oder anderen rassistisch argumentierenden Bürger bei einer Versammlung nicht schon früher hätten rausschmeißen sollen. Wo sich manch einer im Publikum nichts sehnlicher als Charisma und pointierte Schlagfertigkeit wünscht, zeigt Aggregat die Unsicherheit über die eigenen Kräfte, dafür aber ziemlich viel Engagement. Auf der Suche nach Lösungen greifen die Abgeordneten die typischen fremdenfeindlichen Sätze auf, versuchen diese auf dem sozial- und rechtsstaatlichen Boden ins Positive zu drehen (die Strategie: das Gegenüber sollte überrascht werden!). Sprache als normaler Modus operandi – zunehmend und heute mehr denn je wird sie vor allem selbst herausgefordert. Arbeit heißt hier also: Begriffe und Sätze zu sprechen oder wegzulassen, wichtig zu nehmen, zu erwidern.
Ohne jede Entlarvungsabsicht

In einer weiteren Episode erarbeiten zwei taz-Redakteurinnen ein Reportagekonzept. Aus ihrem Büro heraus fantasieren sie sich klassische Biografien und Milieus – bei einer sich progressiv gebenden Zeitung schon irgendwie amüsant. Dass die Wirklichkeit verzerrt wird, indem sie vermittelt wird, braucht Marie Wilke natürlich niemandem mehr zu erklären. Dass es aber Kriterien für die Themenwahl gibt und geben muss, dass Formatvorgaben und gar das Layout vieles schon im Vorfeld unmöglich machen, dass jede lediglich zu den Mitteln greifen kann, die ihr zur Verfügung stehen – ist zwar auch selbstverständlich, eines weiteren Nachdenkens dennoch wert. Die Regisseurin dokumentiert ohne jede Entlarvungsabsicht und entscheidet sich für ungewohnt lange Schwarzblenden, um die Hierarchie zwischen den einzelnen Episoden, gefilmten Personen und Orten aufzulösen. Aggregat will kein Beitrag zu der aktuell sehr beliebten Frage sein, ob und wie man miteinander reden sollte, ob und warum am Verhältnis zwischen Politik, Medien und den sogenannten abgehängten Zielgruppen einiges nicht in Ordnung ist. Das Anliegen des Films ist eine Spur einfacher: den Wert dessen in Erfahrung zu bringen, was bereits da und längst selbstverständlich geworden ist.
Nichts Natürliches

Wenn die parlamentarische Demokratie gerade kränkelt – wäre aus Aggregat zu lernen –, wirft man die nicht sofort weg, sondern versucht zu reparieren. In diesem Sinne könnte man den Weg, den Marie Wilke wählt, auch demokratisch nennen. Als herausragende Dokumentarfilmemacherin beherrscht sie die Kunst des Wartens und macht der Zuschauerin ein gutes Angebot. Sie umkreist den Komplex Demokratie von verschiedenen Seiten, stellt Raum und Zeit zur Verfügung, damit jede, die will, die eigene Arbeit auch wirklich leisten kann: sich in den Bildern umzuschauen, den Blick schweifen zu lassen, das Gesehene und das Gehörte zu sortieren, nachzudenken, eigene Fragen zu stellen. Als Zuschauerin wird man gewahr, dass die Übereinkunft, auf der unser Staatssystem basiert, nichts Natürliches ist. Wenn wir Menschen auf einer Pegida-Demo beim Zuhören, Politiker und Journalisten beim Diskutieren und Entscheidungsfinden erleben, wirkt alles auf einmal sehr fragil. Es hätte damit auch anders kommen können, und es könnte der Teufel weiß noch wohin gehen. Gegen die Erwartung an seine reduzierte und nüchterne Form ist Aggregat ein ausgesprochen emotionaler Film.
Der Film steht in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung.
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