Paulista - Geschichten aus São Paulo – Kritik
Ein kleines Kino gegen die Last der Biografie.

„Jeder Mensch hat eine Geschichte“, erklärt Suzana (Maria Clara Spinelli) und sieht ihrem neuen Schwarm Gil (Gustavo Machado) dabei traurig ins Gesicht. Ihre Geschichte ist für die sich anbahnende Beziehung deshalb ein Problem, weil Suzana mal ein Mann war. Auch wenn dieses Leben längst vorbei ist, auch wenn sie auf der Straße und in ihrer Firma längst als Frau „durchgeht“, auch wenn diese Vergangenheit also eigentlich egal sein könnte, weiß sie, dass es Gil nicht egal sein wird, dass ihre Geschichte etwas zu bedeuten hat, wahrscheinlich sogar wichtiger ist als ihr heutiges Aussehen und als die frische Liebe. Und natürlich ist Gil schockiert, will allein sein und fragt Suzana, warum sie ihm das nicht vor dem ersten Kuss gesagt hat. Für Gil ist Suzanas Geschichte ein Thema, für Regisseur Roberto Moreira ist sie es eigentlich nicht. Was ihn interessiert, das ist nicht Suzanas Vergangenheit, sondern die Last dieser Vergangenheit, die trotz erfolgreichen Passings kein unbeschwertes Leben zulässt.

Der erdrückenden Macht der Lebensgeschichte setzt Moreira ein Fest der Momente entgegen, der Begegnungen und der Leidenschaften. Zunächst lernen wir Marina (Silvia Lourenço) kennen, die ihr Leben und ihren Freund in der Provinz hinter sich lässt, um in São Paulo ihr Glück als Schauspielerin zu versuchen. Sie zieht bei Suzana ein, spricht bei ein paar Castings vor und verbringt die Nächte im Club nebenan, vor allem wegen der schönen Sängerin Justine (Danni Carlos). Während sich zwischen Suzana und ihrem Kollegen Gil die erwähnte Liebesgeschichte anbahnt, scheinen Marina und Justine wie voneinander angezogen. Ach ja, und dann ist da noch Nachbar Ray, ein gescheiterter Schriftsteller, der die von ihm bevorzugte Prostituierte Michelle (Leilah Moreno) verzweifelt zu überzeugen versucht, ein gemeinsames Leben mit ihm zu beginnen.

Moreira gelingt es, diese kleinen Geschichten so zu verknüpfen, dass Paulista nicht zu einem schematischen Episodenfilm verkommt. In der Anordnung und sehr losen gegenseitigen Durchdringung der Figuren wirkt die Struktur des Films weder zu konstruiert noch beliebig. Hier ist kein Regisseur am Werk, der seine Geschichten auf einen gemeinsamen Höhepunkt hinauslaufen lässt, der mit seinen Figuren und ihren Schicksalen eine These aufstellen oder ein Thema behandeln würde. „Ich bin das, was man eine transsexuelle Frau nennt“, formuliert Suzana ihr Geständnis gegenüber Gil. Denn dieses Label interessiert Suzana so wenig, wie es in Paulista um das Thema Transsexualität geht. Die Distanz, die das Erkennen eines Themas impliziert, bricht Moreira ständig auf. Hier werden nicht Fragen der sexuellen Identität verhandelt, sondern Momente des sexuellen Begehrens gefeiert.

Aus diesen auf die Leinwand projizierten Leidenschaften, aus den schmachtenden Blicken, verliebten Schmunzlern und sich anziehenden Körpern inszeniert Moreira in einigen Einstellungen eine etwas zu gewollte Beschwörung großer Kinomomente. Doch mag die poetische Bildsprache auch manchmal erzwungen daherkommen und die musikalische Untermalung mit Popsongs nicht an allen Stellen zur Intensivierung des Erlebens beitragen, nimmt man seine Einladung, in die aufregenden Bildwelten von Paulista einzutauchen, doch immer wieder gerne an. Denn in Verbindung mit den sehr ehrlich gezeichneten und spannenden Figuren erscheint der in der Ästhetik von Paulista spürbare Wunsch nach großem Kino gerade nicht als bloße Nachahmung bekannter Motive der Filmgeschichte. Vielmehr steckt in dieser Verbindung das Versprechen auf ein kleines Kino, das sich dieser Motive nicht bedient, um sie zu kopieren oder zu zitieren, sondern um Bilder zu schaffen, die den eng mit dem großen Kino verknüpften (hetero)normativen Mechanismen entfliehen.
Neue Kritiken

Pink Floyd: Live at Pompeii

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht
Trailer zu „Paulista - Geschichten aus São Paulo“


Trailer ansehen (2)
Bilder




zur Galerie (12 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.