Pankow '95 – Kritik

In Gábor Altorjas DDR-Dystopie von 1983 fliegt Udo Kier über Kuckucksnest. Das neu restaurierte psychedelische Stück Zeitgeschichte widmet sich weniger der Systemfrage als grundsätzlichen Ideen von Widerstand und Flucht.

Es ist 1995, die Wiedervereinigung hat nie stattgefunden, aus der BRD fliehen Arbeitslose in die DDR. Darüber hinaus ist das Setting so eingängig wie ergiebig. Udo Kier als Musiktheoretiker mit dem klingenden Namen Johannes Wolfgang Amadeus Zart ist in einer Psychiatrie untergebracht, das Personal sadistisch, die Insassen narrenfrei und zur Flucht entschlossen. In der Einrichtung herrscht die Positive Psychologie in ihrer Extremform, einziges Kriterium ist, dass der Serotoninwert über der Suizidschwelle liegt.

Die BRD-Produktion Pankow ’95 bedient sich eines DDR-Vokabulars und -dekors, ohne sich allzu sehr um die Systemfrage zu kümmern oder spezifisch Sozialistisches ins damals noch ferne Jahr 1995 zu extrapolieren. Vielmehr greift der Film vage Ängste und Neurosen auf. Ob man jetzt aus der oder in die DDR flieht, ist weniger wichtig als der Wille zur Flucht.

Verschwörung der Jugend

Im Zentrum steht die „Verschwörung der Jugend“. Zarts Theorie von einer zyklischen Wiederkehr der Entfremdung von Erwachsenen und Jugend – alle 15 Jahre: 1950, ’65, ’80, ’95 – gründet auf seinen Analysen von Jugendmusik. Es geht um den freiheitlichen und revolutionären Impuls der Kindheit und Jugend, den das Ausgeschlossensein von der Welt der Erwachsenen mit sich bringt – und um ein System, das diese Jugend vergessen machen will.

Um Zart findet sich eine Gruppe, die ausbrechen will. Ein „Frauenforscher“, ein ausgewachsenes, völlig grünes Retortenbaby mit Kinderstimme und ein Argentinier, dessen weltgewandter Vater (Reeperbahn-Legende René Durand) mit Zarts Frau (Christine Kaufmann) schläft. Die hält Zart, wenn man so will, weiterhin die Treue und trägt Sorge für seine Flucht. Als ihr Nina Hagen als Muttergottes im Fernseher erscheint, beginnt der Plan anzulaufen. Alle wollen sie fliehen, aus der Psychiatrie, aus der DDR, aus dem Verlust der Jugend und im Falle des Retortenbabys sogar in den Mutterleib. Fixpunkt ist ein weltabgewandtes Tropenparadies, von dem aus Zart seine Geschichte im Rückblick einem Klatschblatt erzählt. Natürlich und mit Wonne wird auch dieses Paradies zum Schluss dekonstruiert, denn vor sich selbst können auch Zart und die obskuren Gestalten um ihn nicht fliehen.

Entstellungstechniken

Synthesizer neben „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ in Musiknummern, kakophonische Klangteppiche und überkrachte Dialoge, Computergrafiken und Videoeffekte; Pankow ’95 ist entstellungs- und verfremdungstechnisch auf der Höhe seiner Zeit und macht regen Gebrauch von diesen Mitteln in Albtraum- und Wahnsinnssequenzen. Licht und Schatten fallen meist sehr krass, die Figuren und das Maskenbild sowie ihre Inszenierung kippen auf eine Weise in Bizarre, die man einige Jahre nach Erscheinen des Films als gilliamesque bezeichnen wird. Die Musik stammt von Tom Dokoupil, der als Gitarrist von „The Wirtschaftswunder“ bekannt ist.

Der Humor ist meist lakonisch, manchmal auch trunken. In einer Rückblende erfahren wir von dem „Mord“, der Zart in die Psychiatrie brachte. Zart betritt eine Kneipe, ein Mann kommt ihm entgegen und rempelt ihn an. „Sie könnten mein Sohn sein“, lallt er, Zart erwidert: „Und Sie meine Tochter“ – der Mann stürzt, ist tot und die Szene zu Ende. Während der Witz zündet, verliert sich manche Provokation, manches Sexgekicher heute im anstrengenden Nichts. Wenn etwa ein Insasse einem anderen das Wort „Sex“ an den Hinterkopf rasiert oder der „Frauenforscher“ regelmäßig die Pflegerin (Magdalena Montezuma) erschreckt. Oder wird sich hier über die Prüderie einer Jugend, deren Sex nicht mehr zum Revoluzzen taugt, lustig gemacht? Der Film macht sich die Narrenfreiheit seiner Gestalten zu eigen, ist aber die meiste Zeit enorm beherrscht.

So disharmoniert Kiers beherrschtes, trockenes Schauspiel herrlich mit den abgründigen Exzessen, die den Film prägen. Immer bleibt er unterwürfig-eitler Wissenschaftler, scheint sich fast unpolitisch zu verstehen und spricht, als gelte es, in diesem System nur einige Missverständnisse aufzuklären. Gegenspieler ist ihm der wirr redende und verschwörerische Chefarzt Dr. Werner Frisch (Dieter Thomas Heck).

Pankow ’95 steht für die grellen und weniger fruchtbaren Ableger des Neuen Deutschen Films, die sich in ihrer Sperrigkeit, bei aller Liebe zum Populären, aber auch gefallen. Es bleibt zu fragen, welche Verschwörung der Jugend uns, Zarts Zyklus folgend, 2025 erwartet oder ob sie dieser Zeiten nicht etwas eiliger kam in Form von Klimaprotesten. Das Verhältnis der deutschen Jugend zur Flucht aber scheint sich geändert zu haben: nicht mehr raus und ins tropische Paradies soll es gehen, vielmehr will man bewahren, um bleiben zu können.

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