Palliativstation – Kritik

Den Tod als unverschuldeten Gewaltakt macht Philipp Dörings Dokumentarfilm Palliativstation spürbar. Gut vier Stunden lang bewegen wir uns durch eine Welt, in der dem nahenden Sterben mit unerschütterlicher Alltäglichkeit begegnet wird.

Auf Station 5 im unweit vom Berliner Tiergarten gelegenen Franziskus-Krankenhaus befindet sich eine Klinik für Palliativmedizin. Schwerstkranke Patienten, denen die Rückkehr in ihr gewohntes Lebensumfeld nicht mehr möglich sein wird, werden dort gepflegt und in weiterer Folge auch auf einen nahenden Tod vorbereitet. Palliativstationen stellen in Krankenhäusern, die in der Regel auf Genesung und Wiederherstellung verlorener körperlicher und psychischer Kräfte ausgerichtet sind, einen Sonderfall dar: Behandelt werden dort Menschen, die nicht mehr zu einem früheren gesundheitlichen Zustand zurückkehren können und bei denen die ärztliche Fürsorge ganz darauf ausgerichtet ist, die gegenwärtige Verfassung möglichst lange stabilisieren zu können. Teil der Arbeit ist dabei auch, und darin liegt mitunter die größte Schwierigkeit, die Patienten und ihre Angehörigen mit dem schmerzlichen Gedanken vertraut zu machen, dass es für sie nicht mehr besser, im idealen Fall lediglich nicht unmittelbar schlimmer werden wird.

Unumkehrbare Befunde

In seinem dokumentarischen Langfilmdebüt Palliativstation beobachtet Philipp Döring über einige Wochen hinweg die Arbeitsabläufe der titelgebenden Station. Entstanden ist ein gut vierstündiger, so einfühlsamer wie klarsichtiger Film über das Leben mit Leiden. Zu Beginn wird Simone de Beauvoir zitiert, aus „Ein sanfter Tod,“, einem schmalen Buch, das sie über den Tod ihrer Mutter verfasst hat: „Alle Menschen sind sterblich; aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unfall und, selbst wenn er sich seiner bewusst ist und sich mit ihm abfindet, ein unverschuldeter Gewaltakt.“ In Gesprächen zwischen einem Oberarzt und seinen Patienten, mal unmittelbar aus der Nähe am Krankenbett gefilmt, mal Distanz haltend an der Türschwelle außerhalb des Zimmers, zeigt sich die alltägliche Anstrengung, einen gemeinsamen Umgang mit Schmerzen zu finden, die Schwere des fühlbaren Einschnitts abzumildern. Hauptaufgabe von Palliativärzten ist nicht so sehr, nur eine verbindliche Diagnose zu stellen, sondern die Notwendigkeit von Entscheidungen zu vermitteln (Wird, beispielsweise, ein Zimmer in einem Hospiz unumgänglich?), feinfühlig auf unumkehrbare Befunde vorzubereiten, den Kranken jedoch stets die selbstverständliche Wahl zu lassen, sich gegen Maßnahmen und Therapien zu entscheiden.

Ein Oberarzt spricht mit einer Frau, die vor Kurzem auf die Station gekommen ist, Probleme hat, Luft zu fassen, und sich kaum noch auf der Bettkante aufrichten kann. Zwischenzeitlich ist ihr Ehemann zu Hause gestürzt und infolgedessen innerhalb weniger Stunden verstorben. Nun müssen dessen Konten auf ihren Namen umgeschrieben werden, das gemeinsame Auto, das sie nicht mehr fahren kann, umgemeldet werden. Die Frau erzählt, wie sie sich vor 30 Jahren kennengelernt haben, wie sie bereits nach dem ersten Blickkontakt tätig wurde: „Den schnappe ich mir jetzt. Frech kommt weiter.“ Jeder Krankheitsverlauf ist besonders, jeder Patient äußert andere Bedürfnisse: Eine muslimische Frau möchte nicht, dass jenseits ihrer Geschwister jemand aus der Familie über ihre Krankheit erfährt. Eine ukrainische Familie, dem Bombenhagel in Kiew entkommen, versucht, sich via Google Translate zu verständigen. Das störende Schnarchen eines Mannes bringt einen Mitpatienten in seinem Zimmer dazu, dessen Verlegung in ein Hospiz vorantreiben zu wollen.

Bemühen um Normalisierung

Bisweilen erinnert Palliativstation an Frederick Wisemans fortlaufende Reihe von Dokumentarfilmen über das Sichtbarmachen von Abläufen in Institutionen und öffentlichen Einrichtungen (Wiseman selbst drehte bereits 1989 mit Near Death einen vergleichbar gelagerten Film über eine medizinische Intensivpflegestation in Boston). In Teamsitzungen und Meetings zwischen Ärzten und Pflegekräften werden die Beschränkungen und Hindernisse erkennbar, die auch einer relativ kleinen, sehr gut organisierten Abteilung zusetzen: Unter der Aufstockung der Bettenzahl leidet das der Überforderung nahe Personal, unter dem notwendigen Einbezug von lediglich temporär geleasten Fachkräften die Qualität der Pflege.

„Die Ruhe auf dem Flur fühlt sich manchmal trügerisch an“, sagt in einer Sitzung einer der Ärzte. Durch stetig wiederholte, lange Einstellungen, die die Gänge der Abteilung zeigen, den ständigen Wechsel von Reinigungsarbeiten und ärztlichen Visiten, legt der Film hingegen offen, dass die Arbeit auf einer Palliativstation gerade durch unerschütterliche Alltäglichkeit funktioniert: Im ausdauernden Bemühen um Normalisierung und Akzeptanz von Leiden und Tod kann sich der sorgsamste und menschlichste Umgang mit diesem unverschuldeten Gewaltakt ausdrücken.

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