Unsere kleine Schwester – Kritik
Auch in seinem neuesten Film spürt Hirokazu Kore-eda einer ungewöhnlichen Familienkonstellation nach. Vier Schwestern leben zusammen – und das ganz ohne Konflikt.

Die 15-jährige Suzu (Suzu Hirose) rennt neben dem abfahrenden Zug das Gleis entlang, winkt den Insassen hinterher. Die Musik lässt auf eine klassische Abschiedsszene schließen, auf das tränenrührige Ende eines großen Dramas. Für Our Little Sister ist diese Szene ein Anfang, denn Suzu lächelt beim Winken. Ihr Spurt ist nicht Verzweiflung, sondern Adrenalin; aus ihrem Blick spricht, als sie das Ende des Bahnsteigs erreicht hat, Erregung und Hoffnung. Dass selbst eine solche Szene kein Drama ist, das ist durchaus typisch für diesen Film, dessen Tragödien sich im Off abspielen – an anderen Orten, zu anderen Zeiten. Hirokazu Kore-eda geht es zwar auch in Our Little Sister um den Tod und das Loch, das dieser hinterlässt, doch beobachtet er hier in erster Linie das neue Leben, das aus diesem Loch entsteht.
Vaterlose Pubertät

Die Insassen des Zuges, das sind Sachi (Haruka Ayase), Yoshino (Masami Nagasawa) und Chika (Kaho), drei erwachsene Schwestern, die zusammen im gemeinsamen Elternhaus leben; deren Vater einst die Familie verlassen hat und jetzt verstorben ist. Er hinterlässt seine letzte Frau und eine Tochter, die jetzt diesem Zug hinterher rennt, weil der ihr ein Leben ohne Stiefmutter und mit drei Halbschwestern verspricht. Perspektivenwechsel: Die geschwisterliche Dreier-WG bekommt einen eigenen Teenager geschenkt und verschafft Suzu, was der Film allerdings nur andeutet, eine Pubertät, die man sich ziemlich hübsch vorstellt. Väterliche Warnungen jedenfalls bleiben dem Mädchen erspart, Yoshino rät ihr vielmehr, möglichst bald einen boyfriend zu finden, dann sei nämlich alles spannender. Und nach einem ungeplanten Alkoholrausch kümmern sich gleich drei verständnisvolle wie belustigte Frauen um die kotzende Suzu.

Schon die ersten Dialog-Szenen nach dem Umzug Suzus löst Kore-eda ungewöhnlich rasch in seine Harmonie-Bilder auf. Die Kamera findet den würdevollen Abgang in die Totale, der Piano-Score setzt ein; die Untertitel verschwinden, Gesprochenes löst sich auf ins Sprechen. Familie, im weitesten Sinne, das ist ja so etwas wie das Grundthema von Kore-eda. Wenn er seine konkreten Familiengeschichten, all die mal mühsam aufrechterhaltenen, mal mühelos aufrichtigen Gespräche zwischen erzwungenen Vertrauten in nahen Einstellungen ausarbeitet, dann sind diese Totalen wohl so etwas wie das abstrakte Gegenstück – Familie als Idee. Aus ihnen spricht weniger die konservative Verklärung eines abstrakten Ideals als die humanistische Hoffnung, dass die prekären Bande irgendwie halten, dass man sich allen Vorbehalten und Unterschieden in der Lebensweise zum Trotz noch versteht. Und wahrscheinlich kommen diese Totalen in Our Little Sister früher, weil man sich eben auf Anhieb versteht, weil die Konflikte höchstens geschwisterliche Kabbeleien sind, wie Chika dem Neuankömmling rasch versichert.
Kirschblüten und fast keine Metapher

Auch wenn so die glücklichen, hoffnungsvollen und verständigen Momente nicht nur überwiegen, sondern beizeiten geradezu aneinandergereiht werden und manchmal wie emotionale Abkürzungen wirken, ist es andererseits ganz schön, wie glimpflich alles verläuft in diesem Film. Selbst das für Konflikte prädestinierte Coming-of-Age fügt sich recht mühelos ein; ganz ohne Mobbing oder Liebeskummer. Warum auch nicht? Suzu ist eben schüchtern und spielt Fußball; die Aufregung des neuen Lebens lässt die erwartbaren Probleme im Hintergrund zurück. Trotzdem darf sie irgendwann den Film eine Weile an sich reißen. Dann sieht sie aus dem Fenster ihres Klassenzimmers, in dem sich für uns, die wir von außen zurückblicken, die Stadt spiegelt, diese große weite Welt. Dann fährt sie hinten bei einem Jungen auf einem Fahrrad mit, durch eine Kirschbaumallee im Frühling. Auch in solchen Kitsch folgt man Kore-eda noch immer gern, weil ihm die Kirschblüten zwar eine musikalische Untermalung wert sind, aber doch Kirschblüten bleiben; weil Suzu diesen Moment genießt und wir ihr Gesicht, und so viel mehr ist da gar nicht.
Balancierte Manöver

Die Konflikte kommen zwar, aber nicht als Erdbeben, sondern als äußerst milde Schocks, die einen in sich ruhenden Film nicht zu stören vermögen, aber zumindest vor dem Einschlafen bewahren. Diese Struktur des inneren Kerns der vier Frauen, der von außen irritiert wird, drängelt die unzähligen Nebenfiguren zwar manchmal an den Rand der Funktionalisierung. Doch geht es eben vor allem um diese ungewöhnliche Familie: um die Beziehungen zwischen vier Frauen, die wiederum mit ihren Beziehungen zur Außenwelt ringen, aber immer wieder – ganz Familie eben – in den inneren Kreis des Bekannten zurückkehren können. Our Little Sister ist so ein Film geworden, der trotz seiner harmonischen Balance Raum für zahlreiche Manöver lässt und der sich daher gerade im Vergleich zu Kore-edas letztem Film Like Father, Like Son (2013) deutlich freier und ungerichteter anfühlt; dem man aber auch vorwerfen könnte, dass er die wirklich schwierigen Manöver gar nicht erst versucht.
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