Notre Corps - unser Körper – Kritik
Neu auf DVD: In ihrem Porträt einer gynäkologischen Klinik filmt Claire Simon nicht nur Behandlungen weiblicher Körper, sondern auch Ängste, und wie ihnen entgegengetreten wird. Nicht zuletzt stößt Notre Corps - unser Körper eine notwendige Alphabetisierungskampagne an.
Abtreibung, Befruchtung, Chemotherapie, Depressionen nach der Entbindung, Fehlgeburt, Glück, Haarausfall. Ein Alphabet könnte ein angemessenes Konstrukt sein, sich dem Leben und diesem Körper zu nähern, mit dem wir es bestreiten. Das Alphabet gibt eine Reihenfolge vor, mit klarem Anfang und Ende, zwei Punkte, an denen es sich festhalten lässt, um zwischen den Anordnungen der Buchstaben genug Leere und Variation, Überraschung bereitzuhalten, wenn auf eine Injektion ebenso die Jugendliebe folgen kann wie der Januar in Paris.
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Im K stecken die Kinder und die Kondome, der Kuss und das Know-how, die Krankheit, der Krebs, der Kadaver; da ist er wieder, dieser Körper, den wir uns teilen und der zugleich nicht derselbe ist. Denn nur manche können von Lumpektomie, Menstruation, Nabelschnüren, Ovulation und PMS berichten, diesem besonderen Alphabet, das die Erfahrung lehrt und noch weiter einstudiert werden will. Im neuen Film von Claire Simon lässt sich anhand einer gynäkologischen Klinik etwas lernen über das Sprechen, das Stottern und das Schweigen, über gegendertes Wissen und Nicht-Wissen, das über Existenz und Tod bestimmen kann.

Dass im Zentrum von Notre Corps - unser Körper ein konkreter Ort steht, ist nicht unüblich angesichts der jüngeren dokumentarischen Arbeiten der französischen Filmemacherin. Während sich Garage, des moteurs et des hommes (2021) auf die Männlichkeitsperformance innerhalb einer Werkstatt bei Claviers in der Provence konzentrierte, wo Simon geboren wurde, zeigte sie in Premières solitudes (2018) eine Schule aus einem Pariser Vorort. Dort näherte sie sich auf empathische, sensible Weise den Problemen und Sehnsüchten der Teenager, die in ihrer Abgeklärtheit mit der Welt äußerst erwachsen wirkten. Das aufmerksame Beobachten, Zuhören, gelegentliche Nachfragen praktiziert die Künstlerin auch in Notre Corps – es ist nicht bloß eine filmische Methode, sondern eine Haltung, gekennzeichnet durch die unbedingte Neugier auf das Gegenüber, auf das, was menschliche Erfahrung ist, und wie das Kino sie teilbar machen kann.
Was geht, was bleibt
Eine Mitstreiterin und Freundin legte der Filmemacherin die kleine Klinik in Paris nahe, Produzentin Kristina Larsen, die ebenda behandelt wurde und von einer „mostly female world“ schwärmte; ein Ort, den Simon eben nicht einfach entdeckt, sondern entdecken darf, weil andere vor ihr da waren, sie einweihen in das Geheimnis, das jene Gemeinschaft aus Körpern, in gewisser Weise selbst ein solcher corps, wie eine Haut umspannt. Neben der Klinik ist ein kleiner Friedhof gelegen. Simon kennt ihn, wie sie zu Beginn von Notre Corps gesteht, handelt es sich doch um den Ort, an dem ihr Vater nach langem Krankenhausaufenthalt beerdigt wurde.
Das Sterben und die Vergangenheit begleiten die Dreharbeiten dort, wo die pandemische Gegenwart tobt und vor die Kamera drängt. Ohnehin sind, und das betont dieser Film, Leben und Tod keine voneinander getrennten Konzepte. Vielmehr gleichen sie Prozessen, die parallel ablaufen, wenn sich etwa in einer handelsüblichen Menge Ejakulat nur circa 58% lebende Spermien befinden, wie eine medizinische Fachangestellte an einer Stelle erklärt. Ein Z muss kein Ende markieren im Tableau der Begriffe, das Simon eröffnet, es kann einen Zyklus meinen, in dessen Verlauf sich Vorgänge wiederholen, sodass sie erst erkennbar werden.
Mediale Operationen

Quickie, Reproduktion, Scham: Simon filmt Ängste und die kontinuierliche Arbeit, ihnen entgegenzutreten, Angestellte, Hebammen, Ärzt*innen, die sich die Zeit nehmen, um Gegebenheiten zu erklären und richtigzustellen, die Ausführungen ihrer verschiedenen Patient*innen erstnehmen, sich mit Vornamen vorstellen, Kinder so lässig auf die Welt bringen, als wären sie mit den zukünftigen Müttern nur auf eine Tasse Tee verabredet gewesen. Vertrauensverhältnisse sind es, die in Notre Corps entwickelt werden. Die Kamera scheint Teil dieser Bündnisse zu sein, sie ist da, weil sie gewollt ist und weil sie gefragt hat, ob sie dabei sein darf, ähnlich einer guten Freundin, die mitgekommen ist, um zu beruhigen, eine Hand fest zu drücken, eben zu versichern, dass hier niemand alleine ist.
Dabei ist sie nicht die einzige Kamera, die an diesem Ort weilt. Immer wieder treten weitere Maschinen auf, die mal ein Babyfoto an fehlende Partner*innen übermitteln, mal in Öffnungen eingeführt werden. Eingriffe werden per Controller gesteuert, ein Spermium per Mikroskop sichtbar, dann plötzlich ein Kaiserschnitt. Fleisch mag er sein, dieser Körper, den Notre Corps in manchen Szenen zeigt; diese Bilder betonen in ihrer Rohheit die prinzipielle Frage, die Simons Film stellt, nämlich wer sich in unserer Gesellschaft mit welchen Bildern und Begriffen auskennt, wer sie verstehen kann – und wer sich mit was eigentlich überhaupt beschäftigt hat (oder mal ziemlich dringend müsste).
My body, my choice

Ob es komisch ist, in einer Garage Sex zu haben, oder nichts zu spüren, wenn das frischgeborene Kind auf der eigenen Brust liegt; wie sich die freundliche Absage einer Patientin anhört, die partout nicht aufhören will mit dem Rauchen; wie es ist, leise im Kino mit den Sitznachbar*innen zu weinen; und was passiert, wenn der eigene Körper tatsächlich zur Entscheidung wird; all diese Fragen lassen sich mit Notre Corps beantworten, während der Film zugleich noch von Transidentitäten und Uteri, von Verantwortung, Wut, X- und Y-Chromosomen erzählt.
Bestandteil dieser einzigartigen Versammlung der Themen, Buchstaben, Menschen wird schließlich die Filmemacherin selbst, als sie vor die Kamera tritt und auf dem Behandlungsstuhl Platz nimmt. Der Frühling wird kommen, die Blumen und die Haare werden wieder wachsen, sodass sie beim Fahrradfahren schön im Wind sausen. Notre Corps lehrt vom Leben – als permanentem Versuch, es zu behalten.
Der Text ist ursprünglich am 18.02.2023 erschienen.
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