Orlando, meine politische Biografie – Kritik
VoD: Paul B. Preciado, Ikone der Queertheorie, liest Virginia Woolfs Orlando wie die eigene Biografie. Was in dem Roman schon drinsteckt über Transition und Nicht-Binarität und wo er ergänzt werden müsste, erkundet sein erster Film – clever, spaßig, ernsthaft.

Ein Skalpell dringt in ein Buch ein, schneidet Sätze und Fotografien aus, um Platz zu schaffen für neue Bilder, die sorgfältig vernäht werden wollen. Narben werden sich nicht vermeiden, aber zelebrieren lassen, wenn die top surgery Freiheit verspricht und Paul B. Preciado den Soundtrack zu einer pharmacoliberation liefert, bei der die Halskrause das It-Piece wird. Wann er denn seine Biografie schreiben würde, sei der Aktivist und Philosoph, die Ikone der queeren Theorie (u. a. Testo Junkie, 2016), in letzter Zeit häufiger gefragt worden. Dabei habe doch Virginia Woolf mit ihrem Roman Orlando – A Biography 1928 Preciados Leben bereits notiert, wie dieser zu Beginn seines ersten Films feststellt, den er nun auf der Berlinale vorgelegt hat.
Becoming Orlando

Orlando, My Political Biography heißt er, und befasst sich mit dem, was in der Geschichte von Woolf über einen adeligen Jungen, der sich zur 36 Jahre alten Frau verwandelt, bereits angelegt ist an Erzählung von Transition und Nichtbinarität und wo das Buch der (not so) secret lesbian Autorin möglicher Ergänzungen bedarf. Im Backstage einer gesellschaftlichen Vorstellung, innerhalb derer Begriffe von „Frau“ und „Mann“ immer noch zum Standardrepertoire gehören, lässt Preciado wechselnde Körper auftreten, die sich stets mit Namen vorstellen, ehe sie die Wörter des einen mit denen der anderen verweben; nicht ein Orlando, sondern eine ganze Revue der Orlandos (oder Preciados?), die hier zusammen ihre eigenen (oder Preciados?) und zugleich kollektiven Geschichte(n) um- bis weiterschreiben, bittere Pillen nicht mehr schlucken und neue Formen der Weltenbürger*innenschaft imaginieren.

Was Preciado mit dieser dokumentarischen Transferanordnung wagt, ist ein unbedingt politisches Spiel der Uneindeutigkeiten der Rollen und Schauplätze, der Stimmen, der Texte, die in Orlando, My Political Biography gelesen und gesprochen werden, bei denen nicht immer klar ist, wem sie denn eigentlich zugeordnet werden wollen. Im Theater der Subjektivierung gilt es eben, nicht einfach Sichtbarkeit herzustellen, sondern zwischen T-Shirt-Sprüchen und gender dysphoria über die Bedingungen von Sichtbarkeiten nachzudenken. Preciado macht das clever, spaßig, ernsthaft, indem er einen filmischen Raum einrichtet, in dem trans Personen ihre Lebensrealitäten und Perspektiven teilen, unter anderem von der Abhängigkeit von psychologischen Bewertungen und den Papieren berichten, die der Existenz vorausgehen, Körper überhaupt erst für eine Staatsmacht zur Erscheinung bringen – oder sie genau illegalisieren, wie es Preciado mal selbst formuliert hat.
Die Revolution ist längst da

Anschlussfähig an Preciados Schreibpraxis ist dieser Film allemal, in Teilen ist er sicher auch das, was gerne „akademisch“ genannt wird. Dabei ist es ihm aber ein unbestreitbares Anliegen, bei aller Dekonstruktion, der Offenlegung von Drehsituationen und permanentem Making-of-Modus auf der einen Seite, auf der anderen Seite poetisch voll aufzufahren, sich in Metaphern zu verlieren wie ein Fuchs im Eis, um eben bei aller Abstraktion ganz konkret und nah zu sein, Anschlüsse bereitzustellen: zu Woolf (mit der sich eh mehr Leute beschäftigen sollten), zu Preciado (der die eigene Lebensgeschichte immer wieder mit der Romanfigur abgleicht und sich selbst situiert), zum Roman (mitsamt der Kolonialgeschichte, die in Orlando steckt und gerne überlesen wird) und allen voran zu den Leben dieser Personen vor der Kamera, die eben zeigen, dass die Revolution nicht kommen wird – sie ist schon längst da, und sie wird sich nicht aufhalten lassen, wenn Virginie Despentes am Ende über uns alle richtet.
Der Film steht bis 12.12.2023 in der Arte-Mediathek.
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