One in a Million – Kritik
VoD: Die Schülerin Yara verfolgt online alles, was die Influencerin Whitney Bjerken so treibt. Joya Thomes Dokumentarfilm One in a Million fragt, ob das Erwachsenwerden beider Mädchen trotz räumlicher Trennung nicht eine gemeinsame Erfahrung ist.

Finger gleiten über Glas, als streichelten sie dort nicht bloß ein Bild, sondern einen Körper. Georgia und Neumünster, die Entfernung steht fest, die die beiden Menschen hinter den Fingern trennt. Wie zwei Geraden verlaufen ihre Leben, die sich aber an einem bestimmten Punkt treffen könnten, wenn sie den gleichbleibenden Abstand, den sie zueinander einnehmen, einfach nicht mehr einhielten. Die Hände zögern und setzen erneut an, ehe sie fest auf die spiegelnde Oberfläche drücken. Ein Herz, ein Like, eine kleine Berührung auf dem Touchscreen, in der sich die Linien kurz kreuzen, bis sie wieder auseinanderdriften.
Selbstdokumentation als Selbstmarketing

Instagram und YouTube sind die Kontaktzonen dieser Beziehung auf Distanz, die Joya Thomes Dokumentarfilm One in a Million zeigt. Dabei handelt es sich um ein asymmetrisches Verhältnis der Zuneigung. Denn Yara ist Fan. Online verfolgt sie alles, was die gleichaltrige Influencerin Whitney Bjerken so macht. Mit sechs Jahren hat Whitney angefangen zu turnen, ein Jahr später nimmt sie an den ersten Wettkämpfen teil. Um den Verwandten die Aufnahmen schicken zu können, die ihr stolzer Vater mit dem Camcorder gemacht hat, werden die ersten Videos auf YouTube hochgeladen. Weitere werden folgen, in denen das junge Mädchen mit der Zahnspange am Barren trainiert, von Erfolgen und Enttäuschungen berichtet, ihre Wunden und Verletzungen in die Kamera hält oder auch einfach mal mit den besten Freundinnen Quatsch macht und Never Have I Ever spielt.
Whitneys Videos gehen viral, werden millionenfach aufgerufen (vor allem die Ice Bath Challenge gilt retrospektiv als Durchbruch) – und spülen Geld in die Familienkasse, von dem sich die Kosten für das Training bezahlen lassen. Die finanzielle Notwendigkeit des geteilten, öffentlichen Lebens, das immer schon im Modus des Rückblicks betrachtet wird, läuft in Thomes Film mit, wenn bei Whitney Selbstdokumentation und Selbstmarketing zusammenfallen. One in a Million greift auf die schiere Ansammlung ihres Materials aus der Wunderkammer YouTube zurück und schaltet es zu den eigenen Aufnahmen dazu, um dennoch anhand von ihnen Biografisches zu erzählen. Zugleich wird es bei Thome genau um die Verhandlungen zwischen Vater und Tochter am Küchentisch erweitert, die sonst nicht on camera passieren (Bildgestaltung: Lydia Richter). Whitney weiß nicht, was sie heute im Vlog machen soll. Und richtig Lust, schon wieder über das Training auf Schmerzmitteln zu reden, hat sie eigentlich auch nicht.
Von Vätern und Fröschen

Morgens im norddeutschen Badezimmer bindet sich Yara die Haare genau auf die Weise zum Zopf, wie es Whitney macht. Yara turnt auch, aber nicht auf dem Level ihres Idols, das sich für ein Stipendium an einem College bewerben will. Von Yara gibt es aber auch Homevideos aus der Zeit, als sie noch nicht 14 Jahre alt war, möglicherweise nur nicht so viele (und sie sind nicht online zu finden). Sie ähneln denen von Whitney im Hinblick auf die Einrichtung des Wohnzimmers und das in ihm auftretende Personal, ein Vater, eine Mutter, ein paar kleinere Geschwister. Für die Mütter interessiert sich One in a Million aber kaum, stärker für die Väter, die das Aufwachsen der Töchter begleiten und sich selbst fragen, welche Rolle sie denn noch spielen werden, wenn das Kind eines Tages eigene Ambitionen entwickelt.
In der Schule ist Yara eher still. Sie wird beim Sprechen rot, hat sie festgestellt, und meldet sich deswegen jetzt lieber gar nicht mehr. Im Gegensatz zu Whitney, die in erster Linie beim Drehen der Videos oder den sportlichen Anstrengungen in One in a Million gezeigt wird, ist Yara trotzdem häufiger unter Menschen zu sehen, trifft sich mit ihren Klassenkamerad*innen, bei denen sie nicht weiß, ob es sich tatsächlich um Freund*innen handelt. Von den Fanaccounts, die Yara mit selbst gemachten Fotomontagen und Videos zu Whitneys Turnevolution bespielt, scheinen die anderen nichts zu wissen. Am Badesee werden die Frösche besprochen, über die gestolpert werden müsse, um endlich den Prinzen zu finden.
Bilder in Konkurrenz

Für das Parallele und das Abweichende interessiert sich One in a Million, indem er das Heranwachsen zweier Mädchen nebeneinanderstellt. Thome fragt nicht nur, wie sich diese beiden Leben von Fan und Star zueinander verhalten, sondern auch (und das wird im Film wesentlich bedeutsamer), inwiefern das Erwachsenwerden von Yara und Whitney nicht eine gemeinsame Erfahrung ist, die zwar räumlich voneinander getrennt, aber doch zur selben Zeit gemacht wird. Unausgesprochene Erwartungen werden an den sich verändernden, weiblichen Körper gestellt, vom Umfeld wie den Jugendlichen, die lernen, sich permanent untereinander abzugleichen.
Diese Idee adaptiert auf gewisse Weise auch der Film durch seine Struktur. Ob er tatsächlich verstehen will, wie sich Näheverhältnisse durch Social Media verändern, wie sich alternative Formen von Intimität, Freund*innenschaft oder auch Liebe herausbilden, das lässt sich bezweifeln. Was er aber ernst nimmt, ist die Verknüpfung von Körpern, Geschlecht und Bildwerdung inklusive der Bewertung der Ergebnisse. Letztere haben beide Teenager bestens drauf und antizipieren ihre Wahrnehmung von außen.
Das wird beispielsweise deutlich, als sich Whitneys Vater darüber beschwert, dass seine Tochter aus dem letzten Video ja alles rausgeschnitten habe, was sie liebenswürdig mache. Obwohl also stellenweise ziemlich explizit Technologiekritik in One in a Million geäußert wird, markiert sie der Film trotzdem nicht als eindeutig wie andere zeitgenössische Dokumentarfilme, die sich mit einem ähnlichen Milieu beschäftigen, Girl Gang (2022) von Susanna Regina Meures zum Beispiel.
Pandemie und Pubertät

Und plötzlich meldet sich Yara im Unterricht. Whitneys Zahnspange ist verschwunden. Zwei Jahre sind vergangen, in denen Thome mit ihrem Team aufgrund der Pandemie nicht mehr in die Vereinigten Staaten zu den Bjerkens reisen konnte. Die Eltern sind mittlerweile geschieden, Whitney dreht Videos über den Covidtest durch das Fenster im Auto, das sie jetzt selber fahren darf. Musik macht sie lieber als Sport, sie schreibt Songs über Einsamkeit und Druck, über die Angst, einfach zu verschwinden. An einem von ihnen arbeitet sie auch während der Dreharbeiten zu One in a Million, veröffentlicht ihn an ihrem 18. Geburtstag (older).
Während Whitney nun stärker in sich gekehrt ist, vollzieht sich bei Yara eine gegenteilige Entwicklung. Das heißt nicht, dass auf einmal alles einfacher wäre. Das ist es bei Weitem nicht, vor allem, wenn Papa schon wieder wegen der Zeit nach dem Abi rumnervt oder sie herausgefunden muss, wie sie der besten Freundin sagen kann, dass sie sich in sie verliebt hat. Dass One in a Million mit der pandemiebedingten Lücke offensiv umgeht, sich nicht nur auf ein Davor konzentriert, ist die Stärke des Films, weil er sich damit zur Totalität der Erzählung verhält, die sich zuvor etabliert. Genau für das, was der Film doch dringend erfassen will, fehlen die Bilder. Es bleibt nur die Möglichkeit zur Rekonstruktion, Versuche der Zuschauenden, die Anekdoten, Haltungen, Gesten zu verknüpfen, Rückschlüsse zu ziehen auf diese beiden Frauen, deren Entwicklung sich bei Thome der filmischen Kontrolle entzieht.
Online bleiben

Am Ende des Abspanns wird ein Foto eingeblendet. Da stehen Fan und Idol lächelnd beisammen, als wären sie Vertraute. „In meinem echten Leben ist gerade viel los“, schreibt Yara, als sie den Fanaccount auf Insta stilllegt. „It’s one thing to know you wanna do something. It’s a whole separate thing to actually act upon it and make real decisions“, sagt Whitney in einem Video, das sie am 25. März 2023 nach Erscheinen von Thomes Film uploadet. Der Titel lautet i’m quitting gymnastics. Eine Trennung setzt One in a Million ans Ende, die aber nicht bedeutet, dass das Glück in der Abmeldung und dem Verlassen der Virtualität liegt. Vielmehr demonstriert der Film, wie hier nach anderen Formen des Ausdrucks gesucht wird – die sich eben manchmal dringend ändern müssen, wenn der Herbst den Sommer vertreibt.
Der Film steht bis 14.03.2024 in der NDR-Mediathek.
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