One Day – Kritik
Die Hausarbeit machen, schnell kotzen, und weiter geht’s. One Day zeigt einen ganz normalen Tag im Leben einer Mutter. Ein Horrorfilm.

Anna (Zsófia Szamosi) hat keinerlei Hobbys, Interessen oder Leidenschaften. Obwohl, haben mag sie derlei schon, nur fehlt ihr die Zeit dafür. Im Regiedebüt One Day (Egy nap) der Ungarin Zsófia Szilágyi findet Anna als eigenständige Person quasi nicht mehr statt. Sie lebt nur noch als Funktionsgehilfin, als Managerin ihrer Familie: Kinder wecken, Klamotten für sie bereitlegen, Frühstück machen, Spülmaschine füllen, Spielzeug wegräumen, Essen für die Kleinen einpacken, sie zum Anziehen antreiben, zum Kindergarten bringen oder zur Schule, zum Ballett, zum Fechten, zum Cellounterricht, das Abholen mit anderen Eltern koordinieren, einkaufen, Versicherung anrufen, ihrem ständig arbeitenden Mann Szabolcs (Leó Füredi) hinterher telefonieren, das jüngste Kind trösten, es ins Bett bringen, Wäsche aufhängen, Spülmaschine ausräumen ...
Lebst du noch oder bist du schon Mutter?

Davon wird einem schon beim Zuschauen schwindelig, denn die Handkamera von Balázs Domokos folgt dieser ganzen Hektik mit enormer Kinetik. Auch Anna wird zweimal schlecht während des Films, also schnell kotzen und weiter geht’s. Ruhe gibt es in ihrem Leben nur ganz selten. Einmal, auf dem Weg zur Arbeit, kann sie ein paar Minuten entspannen. Den Kopf an die Fensterscheibe der Straßenbahn gelehnt, starrt Anna erschöpft ins Nichts. Mehr Zeit für sich bleibt ihr nicht, denn schon bricht die Welt wieder über sie herein: Mit der Chefin über die Arbeitsverteilung diskutieren, mit Szabolcs über die gemeinsamen Schulden, mit der Schwiegermutter über den seit Wochen kaputten Wasserhahn. Ach ja, und mit der besten Freundin Gabi (Annamária Láng) über Szabolcs, weil Gabi sich in ihn verguckt und damit eine Ehekrise provoziert hat, an der Szabolcs und Anna aber mangels Zeit nur zwischen Tür und Angel arbeiten können.

In einer leisen, sehr schönen Szene verkriecht sich Anna mit ihrem Jüngsten unter einem Tisch, um der Welt und ihren endlosen Anforderungen zu entfliehen: Was ich nicht sehe, sieht mich auch nicht. Ein Tag im Leben einer Mutter – hinter dem unspektakulär klingenden Plot verbirgt sich ein Drama des Stolperns, Scheiterns, Weinens und Verzweifelns. One Day, bei der diesjährigen Semaine de la Critique in Cannes zu Recht mit einem Preis des internationalen Filmkritikerverbands ausgezeichnet, ist kein Film, der Unentschlossene vom Glück überzeugt, das das Leben als Mutter bedeutet. Sein unglamouröser Realismus zeichnet ein ambivalentes Bild von Mutterschaft, aber gerade diese Aufrichtigkeit mag geeignet sein, gesellschaftlichen Druck von Müttern – und Müttern in spe – zu nehmen. Stolpern, Scheitern, Weinen und Verzweifeln sind erlaubt und gehören einfach dazu.
Imperfektion statt Mutterkult

Zsófia Szilágyi – Regieassistentin von Ildikó Enyedi beim Berlinale-Gewinner von 2017: On Body and Soul (Teströl és lélekröl) – legt es nicht darauf an, ihre Protagonistin als Heldin darzustellen. One Day ist keine Huldigung, keine Pars-pro-toto-Heiligsprechung von Müttern an sich, sondern ein realistischer Blick auf eine von vielen möglichen Ausprägungen von Mutterschaft. Die unterkühlte, nicht unbedingt sympathische Anna wird gerade durch ihre Imperfektion nahbar: Im Dauerstress reagiert sie durchaus mal aggressiv, lässt Szabolcs und Gabi kalt abblitzen und herrscht ab und zu ihre Kinder an. All diese aufgestauten Emotionen brechen in einer grandiosen Szene aus ihr heraus: Während einer Autofahrt will Annas etwa vierjährige Tochter Sári ihre Lieblings-CD hören – als das erste Kinderlied mit altersgerechtem Text, aber erstaunlicher Punkrock-Verve erklingt, beginnt Anna mitzusingen und steigert sich immer mehr in ein völlig ungehemmtes Grölen hinein. Es ist der einzige Moment des Films, in dem sich Annas stete Anspannung einmal komplett löst.
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