Normal – Kritik

Den Apparat spürbar machen: Adele Tullis Dokumentarfilm Normal will Geschlechterkonventionen im Alltag entlarven, und setzt dabei einfach eigene.

Schwangere Frauen turnen im Badeanzug durch das Schwimmbecken, nicht mehr schwangere Frauen mit Kind und Wagen durch den Park. Häufig sind in Adele Tullis Normal Menschenanhäufungen zu beobachten, die synchron Bewegungen ausführen, eben weil sie aus dem Einzelfall Mensch etwas Größeres machen: das soziale Konstrukt, das Tulli untersuchen will. Normal heißt dieser Film schließlich, und mit Vorstellungen von Normalität lässt sich prima die Welt begreifen und kategorisieren, alles Abweichende vage als das „Andere“ markieren. Das binäre Geschlechtermodell hat es ziemlich gut geschafft, gewaltvoll solche Normalitäten zu behaupten. Genau damit beschäftigt sich Tulli in ihrem Dokumentarfilm – Bilder für die abstrakten Vorstellungen von Gender und seiner konkreten Performance zu finden.

Wirklich nur zeigen?

Normal besteht aus einer Reihung kurzer, alltäglicher Szenen, die Tulli auf einer Reise durch Italien gefilmt hat: Väter, die mit ihren Söhnen am sonntäglichen Motorradrennen teilnehmen; Groupies, die ein Autogramm von ihrem Star ergattern wollen; eine Frau bei der Haarentfernung; ein kleines Mädchen bekommt Ohrlöcher gestochen. Normal zeigt getrennte soziale Räume und dividiert sie sorgfältig nach Mann und Frau auseinander. Am Strand, auf der Kirmes, bei der Party und der Hochzeit fallen diese Räume, wenn auch nur für kurze Zeit, filmisch zusammen. All das stellt Tulli erstmal so hin, ohne Interviewausschnitte oder Kommentare per Voice-over, nur als Bilder und Vergrößerungen dessen, was Geschlechterkonventionen bedeuten, was als normal angesehen wird.

In der Montage und Reihung der Szenen werden dann Wiederholungen sichtbar und die Absurdität, die diesen alltäglichen Choreografien innewohnt. Manchmal ist der Ton der Szenerien vertauscht; die Bilder der Kirmes werden etwa von einem sphärischen Rauschen begleitet. Dadurch versucht Tulli, das heteronormative Bildmaterial zu kommentieren und eine Haltung einzunehmen. Aber gerade indem Normal scheinbar nur zeigt, wie es ist, die Dinge nur hinstellt, nimmt der Film selbst wieder normative Setzungen in Bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit vor.

Wer filmt hier wen?

Einmal posieren Diego und Diana bei einem Shooting für das perfekte Hochzeitsbild am Strand. Dieses angestrengte Nachjagen einer Idee ist es, was Tulli irgendwie sichtbar machen will: wie Geschlecht im Alltag über die Produktion von Bildern funktioniert. Gleichzeitig stellt Normal aber stetig selbst welche her. Auch darum ist dies ein ärgerlicher Film, weil er seine eigene Position als Geschlechterbildermaschine nicht reflektiert, aber gleichzeitig so wahnsinnig clever daherkommt – und den Menschen, die da gefilmt werden, fast überlegen gegenübertritt.

Dabei sind die Bilder, die Normal dekonstruieren will, keine, an denen sich viel entdecken lässt. Ein Junge spielt Ballerspiele, das Spielzeug in der Fabrik ist rosa und blau. Eine Frau lässt sich immer noch die Haare an den Beinen entfernen. Stets ist klar, wie die Bilder zu lesen sein sollen. So einfach ist das doch alles nicht, will ich deswegen verzweifelt Adele Tulli zurufen. Ja, es ließe sich schreiben, dass das die Leistung von Normal ist: diesen großen patriarchalen Apparat, in dem wir stecken, spürbar zu machen. Es ließe sich aber auch fragen, wer hier wen filmt, wer wen ansieht, für wen dieser Film gemacht ist. Und wer sich dem so lange aussetzen möchte. Abgesehen davon, dass die Feststellung, wie tief normative Vorstellungen von Geschlecht den Alltag durchdringen, keine allzu überraschende Erkenntnis sein dürfte.

Immer nur Gegenentwurf

In Normal gibt es nichts, das die Geschlechterordnung stört – und das ist in der Logik des Filmes natürlich konsequent. Menschen, Körper, Gefühle passen in die heteronormative Reihung. Lebensrealitäten, die nicht heterosexuell sind und in Normal erst gegen Filmende thematisiert werden, können sich so nur als „andere“ Formen des Begehrens etablieren. Nie werden sie als eigene Lebenswelten ernstgenommen, sondern immer nur als Gegenentwurf, als etwas Abweichendes von einer Norm, die nie so stabil war, wie es der Film nahe legt.

Es ist deswegen die letzte Szene des Films, die in Erinnerung bleibt. Festlich gekleidete Menschen sind auf der Bühne eines prunkvollen Theaters versammelt. Zwei Männer in Anzügen halten sich an den Händen. Die Stimme eines Standesbeamten ist zu hören. Irgendwann lässt der eine Mann im Anzug los, seine Hand greift stattdessen die der Frau mit dem grünen Kleid neben ihm. Der Standesbeamte spricht weiter. Dann nimmt der Mann im Anzug wieder die Hand des anderen Mannes im Anzug, die Frau im grünen Kleid lächelt beiden aufmunternd zu. Nachdem der Standesbeamte beide Männer für verheiratet erklärt hat, applaudieren die umstehenden Personen lautstark. Die Nervosität der beiden Männer fällt ab, sie umarmen sich, küssen sich. Dann gibt es endlich Torte.

Wer heiratet hier wen? Es ist der einzige Moment in Normal, der auf eigene Sehgewohnheiten zurückwirft, der einzige Moment, in dem das Hinsehen zur Reflexion wird. Und doch stellt Tulli auch hier das Hochzeitspaar aus, zeigt es als Gegensatz zu dem, was zuvor gezeigt wurde, und rückt es damit in die Position des Anderen. Fast scheint es, als wolle sich der Film mit der Szene am Ende selbst nochmal aufheben, unbedingt etwas zeigen, das nicht so funktioniert wie das zuvor Gezeigte. Oder aber, schlimmer: Er will als Film ein Zeichen setzen – dass es eben auch „anders“ geht. Genau diese Geste passt aber super zur Behauptung einer Normalität, die damit doch wieder nur stabilisiert wird.

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Kommentare


Felice Vallotton

Auch wenn ich den Grundtenor dieser Filmkritik weitgehend teile, so kann ich bei der letzten Szene nicht im geringsten erkennen / beipflichten, worin der "Gegenentwurf" (»etwas zeigen, das nicht so funktioniert wie das zuvor Gezeigte. Oder aber, schlimmer: Er will als Film ein Zeichen setzen – dass es eben auch „anders“ geht.«) gezeigt oder zu sehen sein soll.
Die Hochzeit der beiden Männer wird doch als "radikal" biedere, spießige, bürgerliche Zeremonie durchgeführt und gefeiert, wie sie jedes heterosexuelle Paar in diesem Film ebenso führen würde. Allein das absurd düstere Sound-Design in diesen Szenen scheint anzudeuten, dass der Film darin keine fröhliche Feier sehen will. Meines Erachtens ist diese Regieentscheidung zumindest verwunderlich, bietet aber in keiner Weise einen Blick auf irgendeine Art von nicht-"normalem" Gegenentwurf zu den schier ohne Ende episodisch aufgelisteten Stereotypen von Bürgerlichkeit, die der Film darbietet. Es ist doch vielmehr die Frage: Wollte die Regisseurin eben keine Alternativen aufzeigen? Wollte sie das schwule Bedürfnis einer bürgerlichen Hochzeitszeremonie/Ehe vorführen?
...Oder was wollte sie eigentlich?






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