No Other Land – Kritik
Neu auf Mubi: Der von einem israelisch-palästinischen Kollektiv gedrehte Film dokumentiert die israelische Siedlungspolitik in dem Gebiet Masafer Yatta, das als Trainingszone für das Militär freigegeben wurde.

No Other Land – produziert von einem palästinensisch-israelischen Kollektiv, bestehend aus Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor – zeigt die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland in all ihrer bürokratischen und militärischen Willkür sowie die Menschen, die von ihr direkt betroffen sind. Basel Adra wurde in Masafer Yatta geboren, einer Siedlung aus 19 palästinensischen Dörfern im Süden der Westbank. Adras Eltern waren beide Aktivisten, bevor sich sein Vater niederließ und eine Tankstelle eröffnete. Die erste Schule des Gebiets – die Schule, in der Adra ausgebildet wurde – entstand im mühsamen Kampf gegen das israelische Militär, das die Berechtigungen hat, u.a. Baugenehmigungen auszustellen, diese aber Palästinensern oft verwehrt. So bauen die Frauen tagsüber, bedroht von Soldaten, aber ohne drohende Verhaftung, und die Männer im Schutz der Nacht. Die Kinder helfen mit, wo sie können. Der Bau der Schule gewinnt so viel internationale Bekanntheit, dass selbst Tony Blair, damals britischer Premierminister, persönlich vorbeischaut, um sie zu begutachten. Auch damals filmte man den eigenen Aktivismus, und die entsprechenden Aufnahmen werden in No Other Land einmontiert. Man sieht Blair, wie er umgeben von Security, durch die Straßen des Dorfes läuft. Im Hintergrund Adras Vater, der laut seinem Sohn kein einziges Wort Englisch spricht. Blair bleibt ein paar Minuten, wirkt etwas verloren, lächelt für die Kamera, schüttelt Hände, und danach fährt der Tross weiter. Der Abrissbescheid für die Schule sowie jedes Haus in der Straße, die Blair entlangging, werden danach annulliert.
Die Kamera ist der Körper

Adra studiert Recht, findet aber in Palästina keine Anstellung. Das Land hat zu wenig Infrastruktur. Sein Studium finanziert er als unterbezahlte Arbeitskraft auf israelischen Baustellen. Eines Abends summiert er bitter, dass dies auch jetzt immer noch seine besten Berufsmöglichkeiten sind. Wir erfahren nichts darüber, wie sich das Kollektiv gegründet hat und wie die Aufgaben verteilt sind, aber Ziel bleibt es, die Siedlungspolitik Israels in Masafer Yatta zu dokumentieren. Das Gebiet wurde von Israel als Trainingszone für dasMilitär freigegeben, weswegen täglich Bulldozer anrücken und Tag für Tag die Häuser der Familien zerstören, die daraufhin in Höhlen ausweichen oder Masafer Yatta ganz verlassen und in die Städte ziehen. Israel zentralisiert die arabische Bevölkerung dadurch vermehrt auf militärisch leichter kontrollierbare Zonen.
No Other Land folgt dem Konflikt von 2020 bis in den Oktober 2023, die Arbeiten endeten mit Ausnahme eines hinzugefügten Epilogs (s.u.) vorm 7. Oktober. Die Lage verschlechtert sich während der Enstehung des Films konstant, aber er fängt dennoch wichtige Prozesse ein und verpackt sie in Bilder, deren Praxis mittlerweile aus den sozialen Medien bekannt ist. Die Kamera ist der Körper, und wenn der Körper angegriffen wird, so wird auch die Kamera angegriffen. Wenn der Körper stirbt, enden auch die Bilder. Ein Denken am Bild und in der Bildproduktion, das sich bis zu den Anfängen des palästinischen Kinos zurückverfolgen lässt. Palestine In The Eye (1977) ist ein Tribut an Hani Jawharieh, der zusammen mit Mustafa Abu Ali und Sulafa Jadallah das Kollektiv der Palestine Film Unit (PFU) gründete, die als kinomilitärischer Arm der PLO agierten und deren Arbeit dokumentierten. Es sind Filme für den militanten Widerstand aus dem militanten Widerstand, mit Bolex auf der Schulter über die Bergkämme. Jawharieh filmte dabei bis kurz vor seinen eigenen Tod, als eine Rakete ihre Stellung traf.
Oft sieht man in No Other Land Boden oder Himmel und hört das Kamerarauschen vermischt mit Schmerzensschreien. Manchmal treten Soldaten vor die Kamera und versuchen Adra einzuschüchtern. Siedler starten Gegenaufnahmen des Israelis Yuval Abraham, um ihn zu doxxen Abraham und Adra haben dabei eine fast schon unausgesprochene Dynamik entwickelt. Abraham filmt, wo es für Adra zu gefährlich wird, und Adra legitimiert bis zu einem gewissen Grad Abrahams Präsenz. Als das Militär Baumaterial konfisziert, das die Bewohner zum Wiederaufbau der Häuser benutzen, schlägt einer der Soldaten einen Mann und schießt ihn danach in die Brust. Harun Abu Aram überlebt, ist aber vom Kopf abwärts gelähmt. Wir sehen, wie die Trauer in Wut umschlägt und Proteste in seinen Namen stattfinden, die vom Militär mit Tränengras aufgebrochen werden. Harun wird in die Höhle gebracht, wo sich sein Zustand verschlechtert. Fernsehteams kommen, um über den Fall zu berichten. (In The Nation kann man einen Artikel finden, der von einer Cousine in Brooklyn geschrieben wurde.) Am Ende wird er an seinen Wunden sterben.
Die Routine der Prozesse

Es ist die Routine dieser Prozesse, die im Gedächtnis bleibt. Keiner ist von der Reaktion der anderen Seite überrascht, aber die Machtverhältnisse sind so unausgewogen, dass die Dörfer nur ihre Stimmen und Adras Camcorder haben. Adra belächelt Abraham für dessen Enthusiasmus, weil er versteht, dass sich diese Situation nicht durch ein paar Artikel lösen wird. Abraham versteht die Langwierigkeit des Widerstandes, die Historizität dieser Bilder, aber Adra muss sie leben. Das Militär beginnt auf Adra aufmerksam zu werden und sucht konzentrierter nach ihm, dringt mehrmals nachts in das Dorf und sein Haus ein und verhaftet am Ende seinen Vater, der für mehrere Wochen in ein Militärgefängnis gebracht wird. Adra muss die Verantwortung für die Familie übernehmen und die Tankstelle weiterführen, nimmt sich eine Auszeit von dem Aktivismus. Die Beziehung zwischen ihm und Abraham rückt mehr in den Fokus. Vieles bleibt unausgesprochen, auch weil es für sie gelebte Realität ist.
Abraham ist in seiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt, fährt deswegen auch meistens das Auto und kommt nach Masafer Yattal. Die Situation in dem Gebiet verschlechtert sich zunehmend. Das Militär betoniert Brunnen zu und durchsägt die Wasserleitungen, da diese laut israelischem Recht ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Angrenzende Sieder – Abraham erwähnt in der Q&A, dass diese nicht Netanjahu wählen und mehr dem zentralen Spektrum zugeordnet werden – verschleiern sich und beginnen unter dem Schutz und Zusehen der Armee die Häuser und Bewohner mit Steinen zu bewerfen. Kurz nach den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober fallen bewaffnete Siedler in das Dorf ein und erschießen einen Cousin von Adra auf offener Straße. Laut Adra ist die entsprechende Person bis heute nicht verhaftet worden. Adra und Abraham legen ihre politischen Hoffnungen ausschließlich auf eine Intervention westlicher Regierungen, ohne sich allzu viele Illusionen zu machen, aber der Film existiert, der Saal war voll und die Message wird sich weitertragen.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
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Kommentare
Barbara Suhren
hat jemand noch die Rede von Thomas Heise mit der Jurybegründung bei der Berlinale gespeichert / vorliegen, oder weiß, wo sie zu lesen ist?
Danke,
Barbara
tom pisa
nee , zum Glück nicht. Es war das erste Mal, dass ich ihm nicht mehr folgen konnte.
RIP
2 Kommentare