Lügende Lippen – Kritik
VoD: Die versehrte Tänzerin und die Hoffnung auf stützende Close-ups. In ihrem ersten offiziellen Spielfilm repariert Ida Lupino einen weiblichen Körper.

Ikonisches Close-up: Carols Gesicht bestimmt dann doch mal den Rahmen. Sie sieht auf, in ihren Augen glänzt es, sie hofft. Ein kurzer Moment der Anmut, den ihr dieser Film schenkt, bevor er wieder unnachgiebig wird, weil er uns nichts vormachen will. Es geht zurück in eine Halbtotale. Und die lenkt unseren Blick auf die von der Nahaufnahme kaschierte körperliche Arbeit, die Carol (Sally Forrest) zu leisten hat: Mit Mühe stützt sie sich auf einen Tisch, dann lässt sie los und versucht verzweifelt zu stehen. Ihr Gesicht ist jetzt nur noch Fragment eines instabilen Ganzen. Ein entzauberndes Bild, wie vom Filmset, wie aus einem Making-of. Nimmt die Kamera Carols ganzen unganzen Körper in den Blick, dann gibt es keinen Glanz mehr, dann sieht sie nicht mehr nach oben, dann geht es nur nach unten. Was die Nahaufnahme noch konnte, gelingt der eigenen Motorik nur kurz. Dann verliert Carol ihren Halt. Ida Lupinos erste vollständige Regiearbeit Never Fear ist, noch bevor sie ein Film über eine verhinderte Liebe ist, ein Film des verhinderten Close-ups, der verlorenen Anmut. Und ein Film über einen weiblichen versehrten Körper. Carol, die Tänzerin, hat Polio.
Erinnerungen an die ersten Szenen

Vor der Schock-Diagnose hatte die Kamera noch nicht jene Macht, Carol aus der Balance zu bringen. Da blieb ihr nichts, als sich diesem Körper zu fügen, da war sie verdammt zur bloßen Reaktion. Carol führte. Die lange Square-Dance-Sequenz mit ihrem Choreografen und baldigen Verlobten Guy (Keefe Brasselle) in einer Bar, sie hat nicht bloß die Frage vorbereitet, die das Drama bald stellen wird: Wird sie je wieder tanzen können? Sie hat auch den Film erzählt, den der alternative Titel von Never Fear beschwört: The Young Lovers. Carol und Guy berühren einander und lassen sich los, bald tanzen sie sich an, bald enttanzen sie einander, sie imitieren einen Fechtkampf und lassen diesen wieder ins Tanzen übergehen, bevor sie den Tanz in einer innigen Umarmung schließlich auflösen. Die Geschichte der beiden Liebenden, das Kennenlernen, das Verlieben, die Konflikte und Versöhnungen – all das kann hier nur kurz getanzt werden. Dann treten Carol die Schweißperlen auf die Stirn. Never Fear ist vielleicht auch ein verhindertes Musical.

Die ersten Symptome von Carols Krankheit inszeniert Lupino als Verzerrung der Wahrnehmung: Ein flottes Pianostück will Guy für sie spielen, aber bei Carol kommen nur Dissonanzen an. Der Blick verschwimmt. Sein Geklimper scheint ihr bald unerträglich, dann dreht er sich endlich weg vom Klavier und hin zu ihr, und dann ist es vorbei mit der Musik und der Fröhlichkeit, und bald ist es auch vorbei mit den ganzen Plänen, dem Reisen, dem Heiraten, dem Tanzen.
Der Ring und der Körper

Lupino erzählt dann, auch inspiriert von ihrer eigenen Polio-Erkrankung in den 1930er Jahren, eine eigentlich klassische Geschichte über einen gebrochenen Willen, der wieder geflickt werden muss. Krisenbewältigungskino. Dafür steht nicht zuletzt der Verlobungsring, den Carol irgendwann abzieht, weil sie im Selbstmitleid zergeht; weil Guys liebevolle Geduld sie nicht stützt, sondern nur weiter in die Tiefe zieht; weil sie sich nicht mehr als Frau fühlt, sondern als Krüppel; weil sie keine Zukunft, keine Ehe sehen kann. Wenn dieser Ring auch von vornherein das erwartete Ende in sich trägt, das Versprechen auf Ganzheit und wohlige Schließung am Leben erhält, weil er zwar vom Finger gelöst wird, aber nicht zerbricht, dann durchströmt noch eine andere Bewegung diesen Film, die keinen Kreis schließen, sondern neue Möglichkeiten öffnen möchte.
Die dokumentarisch anmutenden Szenen der Rehabilitation (Lupino hat sie in einem echten Zentrum für Polio-Patienten gedreht), die behutsamen Dehnungen von Carols Beinen, sie beschwören die versehrten Körper des Veteranenfilms der frühen Nachkriegszeit. Wie Marlon Brando im Soldaten-Krankenhaus von Zinnemanns Die Männer (The Men, 1950) arbeiten die Patienten hier an den eigenen Bewegungen, nur sind die Geschlechter und Altersklassen bei Lupino vereint. Das Privileg des versehrten Leibes wird dem männlichen Soldaten entrissen; nicht um die Reparatur des nationalen Körpers geht es, nicht um die Reinstallation der Heimgekehrten an der Heimatfront. Carols Körper ist es, der wieder entstehen soll, und ein derartiger Fluchtpunkt ist er nicht als das dem männlichen Blick versprochene Objekt der Begierde, sondern als ganz konkreter Bewegungsapparat, der erst langsam wieder in Schwingungen versetzt wird, der durch die repetitiven, völlig ungrazilen Reha-Moves handlungsfähig werden soll.

Zwei Momente
Und doch bleibt Never Fear ein Liebesdrama, folgt dabei nicht nur Carol, sondern auch immer wieder Guys neuem Leben: wie er versucht, zu arbeiten und jenseits der Tanzbühne Fuß zu fassen. Nach einer besonders harten Abfuhr Carols sucht er auch Trost bei anderen Frauen. Und das ist eine sehr schöne Szene: Da geht er mit seiner Sekretärin nach Haus und küsst sie leidenschaftlich, aber nicht mal mit scharf justiertem Production-Code-Radar findet man den Seitensprung hier wirklich ausagiert. Denn beide zögern: Sie will nicht so recht Trostpreis sein, und er döst ohnehin bald auf dem Sofa ein. Zwei Stunden und eine überblendete Ellipse später hockt sie neben ihm, man hält sich die Hände und redet ein bisschen. Über Carol. Die erlebt später einen ähnlichen Moment mit dem potenziellen love interest Len. Auch hier ist beiden klar, dass ein Konkurrenz-Zweierlei keine Alternative sein kann, weil die Erzählung ja längst unter der Macht des Ringes steht. Man legt also nur die Stirn gegeneinander und verschwindet in der Schwarzblende. Dann kann das Ende kommen.
Der Film steht bis 07.07.2023 in der Arte-Mediathek.
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