Mutzenbacher – Kritik
VoD: Ruth Beckermann bittet in Mutzenbacher Männer zur erotischen Lesestunde und nimmt sich anhand eines Skandalromans das Verhältnis von Sprache und Scham vor.

Ganz laut und ganz leise können sie sein, diese Männer, wenn sie die Welt versuchen zu beschreiben. Ein angemessenes Vokabular müssen sie noch finden, weshalb die Stimmlippen oft nur langsam zu schwingen beginnen und sich in Bewegung setzen, wie Mühlen, die angetrieben werden wollen, ehe sie ein Ganzes zermalmen und die Stückchen zu erkennen geben, aus denen es einmal bestand. Gemächlich tasten sich die Münder und die Männer vor, rücken gemeinsam näher, während sie sprechen, suchen mit den Augen das Gegenüber auf eine Reaktion ab, um dem Blick im nächsten Moment wieder auszuweichen. Andere halten ihm stand, wollen eine Einschätzung der eigenen Performance bekommen, Bestätigung für das abgreifen, was sie formulieren.
Wer hat’s geschrieben?

Alle wollen sie, die Männer, möglichst genau sein in dem, was sie mit und ohne Lupe treiben, es gut machen vor Ruth Beckermann, deren Castingaufruf sie gefolgt sind. Männliche Mitwirkende zwischen 16 und 99 Jahren hat die Regisseurin per Zeitungsannonce für eine Verfilmung des Skandalromans Josefine Mutzenbacher gesucht, und scharenweise sind sie erschienen: die eine Hälfte aufgrund der prominenten Filmemacherin, die andere wegen der Figur der Mutzenbacher – „bekannt für ihre Tätigkeiten“, umschreibt einer, ein „Lolita-Typ“, konstatiert fachmännisch ein anderer. Der Roman erzähle „derben Sex in Kellern und auf Dachböden“, von „sehr schlüpfrig“, „vulgär“, „gut geschrieben“ bis „geil“ gehen die Einschätzungen der bei Beckermann zum Vorsprechen eingeladenen Herren.
Das Buch, 1906 anonym erschienen und mit dem Untertitel Die Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt versehen, gilt als „pornografische Literatur von Weltrang“. Meint schon wieder ein Mann, Oskar Wiener nämlich. Aber so eindeutig ist das mit der Urheber*innenschaft nicht, wie es der Untertitel nahelegt, weil die Literaturwissenschaft den Roman inzwischen keiner Schriftstellerin, sondern vielmehr Felix Salten zuschreibt, dem Autoren von Bambi.
Auf der Besetzungscouch

Von dem, was war, zurück zu dem, was ist: In Mutzenbacher tritt keine Armee der 33.000 Schwänze auf, wie sie die literarische Vorlage an einer Stelle präsentiert, als die Romanfigur ihre vergangenen Liebhaber durchrechnet, aber doch ein stattlicher Chor von 100 Anschauungsexemplaren, gezeigt in einem Film, der wiederum 100 Minuten geht. Dennoch ist keine Fließbandarbeit angesagt, Beckermann nimmt sich Zeit, arbeitet sich geduldig vor. Eine schlichte Halle mit Sofa, Klavier und weiteren Requisiten dient als Drehort, einer Probebühne im Theater nicht unähnlich.
Dieser Eindruck passt zu dem, was die dokumentarische Anordnung Beckermanns tut: Hier wird nämlich kein Spielfilm gedreht, nein, es geht um Vorbereitung. Mutzenbacher zeigt ausschließlich Situationen, in denen Auszüge aus dem Buch vorgetragen, vorgelesen, mehr laienhaft denn professionell vorgespielt und diskutiert werden. Das Lesen und das Hören, es sind zentrale Vorgänge, unbedingt aufregend in ihrer ausgestellten Alltäglichkeit, die in dieser Form wiederum besonders werden, wenn Finger sanft Papier berühren und ein Film das Wagnis vermittelt, das im Weiterblättern steckt. Ein Kinderspiel, ein Rollenspiel, zu dem wir eingeladen sind, dessen Ausgang Verhandlungssache ist.

Wie der Roman nämlich überhaupt verfilmt werden könnte ob seines teils brisanten Inhalts und der Zensurgeschichte, gibt in Mutzenbacher Anlass zu einem generellen Austausch über Sexualität, Missbrauch und Macht. In verschiedenen Paarungen oder auch einzeln bittet Beckermann die Männer auf dem rosafarbenen Chippendale-Sofa zum Gespräch. Das Möbelstück ist vieldeutiges Zeichen, Referenz auf die Zeit der Entstehung des Buches zum einen, ein vielschichtiger Bildraum vielleicht, in dem sich die Assoziationen überlagern, zum anderen. Wenn die Gefilmten über heimliche Begierden und Ängste sprechen, Geständnisse machen, vom ersten Porno erzählen, den sie gesehen haben, von dem Moment, wie es war, endlich alleine mit Petra oder Melanie im Zelt zu sein, oszilliert das Sofa zwischen therapeutischem Arrangement, Verhörsituation, Talk-Show, Nachsitzen, Bewerbungsgespräch und Besetzungscouch. „Hab ich das gut gemacht?“, fragt ein Bewerber Beckermann in der Hoffnung auf eine Rolle, die er eventuell schon längst spielt.
Scham und Sprache

Mutzenbacher erinnert an einen anderen Film aus dem Œuvre der Magierin Ruth Beckermann, in dem auch Lektüreerfahrungen verhandelt werden: Die Geträumten (2016), der sich mit dem jahrzehntelangen Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan beschäftigt. Ein anderes Duo, Anja Plaschg und Laurence Rupp, liest darin die 2009 posthum erschienenen Texte vor und denkt in den Pausen über das nach, was es da rezitiert hat. Die Sätze der Geliebten beginnen die beiden zu umspannen, es wird immer undurchsichtiger, ob der sehnsuchtsvolle Blick, den Plaschg ihrem Spielpartner zuwirft, einer der Inge auf ihren Paul ist oder nicht doch der einer anderen sein könnte.
Der neue Film von Beckermann versucht nun, noch tiefer ins Material zu stoßen und es gänzlich zu durchdringen, wenn er Vorgelagertes fokussiert, die Personen vor der Kamera bei der Suche nach einer Haltung zum Text zeigt, das heißt erstmal in Frage stellt, ob und wie sich die Wörter sprechen lassen (was bei dem poetisch-melancholischen Tonfall von Die Geträumten gar kein Problem war) – und was halt passiert bei den Lesenden, Spielenden, Zuschauenden, Zuhörenden gleichermaßen, wenn die erotische Literatur auf einen Besuch im Kino vorbeikommt und es mit ihrer Sinnlichkeit verzaubert.
Genuss oder Entschuldigung
Sie lachen, stöhnen, husten, verlesen sich, erröten, ziehen ungläubig die Augenbrauen hoch und müssen neu ansetzen, diese Männer, die neugierig weiterlesen. Wie Scham und Sprache verschaltet sind, untersucht Beckermann mit der Kamera, wendet sich gegen das Schweigen, das im Buch gefordert wird, nachdem der Vater, der Bruder, der Nachbar, der Priester, der Polizist, der Arzt sich allesamt an der jungen Josefine vergreifen.
Jene weibliche Ich-Perspektive, aus denen die Texte vermeintlich geschrieben sind, macht die Regisseurin reflexiv, indem sie diejenigen vor der Kamera durch gezielte Nachfragen zum Kommentieren und Weiterdenken motiviert. Ist die Lust der Josefine, die die Texte insbesondere in Situationen des Übergriffs betonen, weniger Ausdruck eines selbstbestimmten Genießens und stärker die Entschuldigung eines patriarchalen Systems, von sich durch sich, eine Bitte um Verzeihung, die ein Autor bereits dort hineingeschrieben hat? Mutzenbacher stellt sich Fragen wie dieser auf unterschiedliche Weisen, witzig, nachdenklich, betörend, verstörend, verworren, aber immer interessiert daran, empathisch zu verstehen, wie wir’s allein oder miteinander machen, und wie wir uns über solche Erfahrungen verständigen können.
Und, wie war ich?
Die Sprache setzt nicht am Nullpunkt an, der Roman unterbreitet Vorschläge, nur scheinen „Fud“, „Duddeln“, „Spargel“, „Schweif“ und „die große, glühende Stange“ erstmal nicht mehr die Begriffe zu sein, die so richtig zünden; und doch schafft Mutzenbacher mithilfe des Buchs und dessen Vokabular nichts als charmante Verführung, Räume der Imagination und der Doppeldeutigkeiten, in denen schwere Tropfen auf den Boden klatschen und die nächste Glücksekstase wartet, in die es sich ordentlich hineinmassiert werden will. „Hat’s dir auch gefallen?“, fragt einer erwartungsvoll den Kollegen neben ihm nach der eigenen Darbietung. Ein anderer wird schließlich seufzen, das Blatt aus der Hand legen und auf feinstem Wienerisch zusammenfassen: „Alles scho a bisserl komplex“. Ein zustimmendes Nicken vor mir in der Sitzreihe, besser lässt es sich manchmal nicht sagen.
Der Film steht bis 18.07.2024 in der Arte-Mediathek.
Der Text ist ursprünglich am 15.02.2022 erschienen.
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