Mrs. Fang – Kritik
Sterben im Randgebiet der Moderne – Wang Bings Mrs. Fang zeigt die letzten Lebenswochen einer an Alzheimer erkrankten Bäuerin. Dabei entwirft er ein Widerspiel zwischen dem Stillstand des Todes und dem unaufhaltsamen Wogen gesellschaftlichen Wandels.

Die Augen rollen träge hin und her und scheinen sich dabei ständig zu verwandeln, obwohl ihre äußere Erscheinung doch stets dieselbe bleibt. Denn in einem Moment scheint die Bewegung der glänzenden Kugeln einem Willen zu gehorchen, ihr Hin- und Herschweifen Ausdruck einer inneren Neugier zu sein, das Leuchten im Zentrum der Pupillen einen erkennenden Blick zu äußern. Doch schon im nächsten Moment ist der Anschein eines fremden inneren Erlebens wieder erloschen, die Bewegung der Augen erscheint vollkommen gleichmäßig, vorhersehbar, mechanisch, und das Leuchten ist nur mehr eine zufällige Lichtspiegelung auf der leeren Dunkelheit des Augeninneren.
Diese beweglichen und doch nur zeitweise lebendigen Augen gehören Mrs. Fang, einer durch fortgeschrittenen Alzheimer ans Bett gefesselten Bäuerin aus einem Dorf am Rande der chinesischen Großstadt Huzhou, deren letzte Lebenswochen Wang Bings Dokumentarfilm mitverfolgt. Stumm und hilflos liegt Mrs. Fang in eine bunte Kinderdecke eingewickelt im Kreise ihrer Familie, und alle scheinen gemeinsam auf das Ende zu warten. In dieser gleichförmigen Zwischenzeit des Wartens ist es allein der Blick der langsam sterbenden Augen, der so etwas wie eine Struktur entstehen lässt – einen stetigen Wechsel von lebendigem Aufflackern und bewusstlosem Zusammensinken, von plötzlicher, unerwarteter Nähe und scheinbar unüberwindbarer Distanz und Fremdheit.
Die Pflicht der bloßen Anwesenheit

Auch für die Angehörigen ist die Sterbende in erster Linie ein großes Rätsel, um das man sich versammeln und dem man sich immer wieder aufs Neue aussetzen muss. Wie als Gegenstück zu den langen Nahaufnahmen von Mrs. Fangs krampfhaft verzerrtem Gesicht wirken die Einstellungen, in denen man die Sterbende gar nicht direkt sieht, in denen sie nur das unsichtbare Zentrum der um sie gescharten Angehörigen bildet. Dicht gedrängt stehen Kinder, Enkel und Schwiegersohn an ihrem Bett und tauschen Vermutungen über den Zustand von Mrs. Fangs Haut, über die Bewegungen ihres Mundes oder über die Veränderung ihrer Augen aus. Die Pflicht der Angehörigen besteht in diesen letzten Lebenswochen nicht in großen Trauer- oder Fürsorglichkeitsgesten, sondern nur in der bloßen Anwesenheit. Ihr Handeln wird durch ein einziges, klar umrissenes gesellschaftliches Gebot geleitet: die Mutter, die Tante, die Groß- oder Schwiegermutter in ihrem Sterben nicht alleinzulassen.
So zeigt Mrs. Fang den Tod als ein den Lebenden unzugängliches Geheimnis und zugleich als einen sozial gut eingeübten Vorgang, für den es fixe Handlungsvorgaben und ein klares Skript gibt. Immer wieder kippt der Film hin und her zwischen dem endgültigen Stillstand, der in Mrs. Fangs unruhigen Augen langsam und unaufhaltsam heraufdämmert, und einer gesellschaftlichen Betriebsamkeit, die nie zum Erliegen kommt, ja nicht einmal wirklich ins Stocken gerät.
Mrs. Fang und der Clash städtischer und ländlicher Ordnung

Diese Familie, die sich in der aus nur einem einzigen Zimmer bestehenden Wohnung versammelt hat und sie zeitweise komplett ausfüllt, wird in Mrs. Fang als eigenständiges, sich selbst am Laufen haltendes Gebilde inszeniert. Die dargestellten Menschen führen eine Existenz am Rande der industrialisierten Moderne, vollkommen losgekoppelt von der nahen Großstadt – einer Großstadt, die nie selbst in Erscheinung tritt, die nur am Anfang des Films durch eine kurze Texteinblendung benannt wird, deren Ausläufer aber dennoch immer wieder im Hintergrund der Bilder auftauchen. Strommasten ragen in den Nachthimmel, als einige der Familienmitglieder in einem klapprigen Boot und mit selbstgebauten Angelinstrumenten nachts auf Fischfang gehen, und der dumpfe Lärm einer Schnellstraße rauscht beständig in der Nähe, als drei der Angler in einer langen Einstellung zuerst das kleine Dorf und dann die verwilderten Felder des Umlands durchqueren.
Zwei Ordnungen treffen in diesen Bildern aufeinander: eine scheinbar immer noch weitgehend auf Selbstversorgung basierende, ländliche Lebensweise und die unsichtbare, aber dennoch spürbar übermächtige Welt der Industriegesellschaft. Noch scheinen diese Ordnungen Seite an Seite existieren zu können, ohne groß voneinander Kenntnis zu nehmen, doch irgendwann ist ein Zusammenprall unvermeidlich – in der unscheinbaren Bemerkung, Mietwohnungen seien in dem Dorf momentan sehr begehrt, scheint er sich bereits anzukündigen.
Ein den Blicken entzogenes Geheimnis

Der Wucht eines solchen Zusammenpralls wird die Welt, in der Mrs. Fang lebte und in der sie nun stirbt, wohl nicht lange standhalten können, denn die trägen und gleichmäßigen Rhythmen ihrer Lebensweise sind offenkundig nicht mit der erzwungenen Dynamik eines auf stetiges Wirtschaftswachstum ausgerichteten Staatswesens vereinbar. Dabei sind es durchaus klassische Motive der Fortschrittskritik, die hier aufgegriffen werden: eine beinahe andachtsvolle Beobachtung des kaum technisierten Handwerks, ein Versinken in den zyklischen Strukturen des ländlichen Lebens, Bilder einer durch keine Fliehkräfte zerrütteten menschlichen Gemeinschaft.
Dennoch ist Mrs. Fang nicht einfach ein glatte Elegie, wird das Leben abseits der modernen Industriegesellschaft nicht einfach als Idylle dargestellt. Bings Film ist vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens im Allgemeinen, sowohl in biologischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Der Tod des Körpers und die Ausschläge des geschichtlichen Wandels werden beide als unsichtbare, anonyme und darum an sich weder gut- noch bösartige Mächte inszeniert. Die moralische Verantwortung und die gedankliche Fürsorge, die Bing den in seinem Film dargestellten Menschen gegenüber einfordert, entsteht allein aus der Tatsache, dass diese Menschen derartigen Kräften ausgeliefert sind – Kräften, die jedes menschliche Maß übersteigen.
Der Tod und die Geschichte, das individuelle Erleben und die unpersönlichen Institutionen des Gemeinwesens, sie kreuzen sich schließlich am Ende des Films, als Mrs. Fangs Leiche abtransportiert wird. Den Krankenwagen sieht man nicht, man sieht nur den Widerschein des Rücklichts. Die Mächte, von denen das menschliche Leben ganz wesentlich bestimmt wird, bleiben auch zum Schluss ein den Blicken entzogenes Geheimnis, manifest nur als roter Schimmer, der auf die Hinterbliebenen zurückfällt.
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