Red Secrets - Im Fadenkreuz Stalins – Kritik
Hin, hin, zur Wahrheit! Agnieszka Holland zeichnet in ihrem neuen Film Red Secrets - Im Fadenkreuz Stalins das vergessene Leben eines Journalisten nach, der den Lauf der Geschichte verändert hat.

Ganz aufgeregt ist dieser Film immer dann, wenn sich etwas in Bewegung setzt. Schon beim ersten Telefonat schneidet Agnieszka Holland nicht einfach hin und zurück, sondern nimmt die Verschaltungen und Kabelansammlungen in den Blick, die die Telekommunikation in den 1930er Jahren noch so nötig hatte. Red Secrets - Im Fadenkreuz Stalins fährt die Verbindung von London nach Moskau erst einmal nach, bevor er sie herstellt.
Als Gareth Jones (James Norton) dann auch ganz persönlich Fahrt aufnimmt, zunächst nach Moskau, später von dort in die Ukraine, ist die Kamera endgültig aus dem Häuschen. Die sich in Bewegung setzenden Zugachsen dürfen komplett den Kader füllen, dann wechseln sich Vogelperspektiven mit Seitenansichten auf die Eisenbahn ab, dazwischen mal kurze Filmausschnitte mit sowjetischer Maschinenromantik, die Musik ist eh schon weit vorausgeprescht. Im Mittelteil sieht der Film Mr. Jones lange dabei zu, wie er durch den Tiefschnee hetzt und sich in russischen Wäldern verliert. Und am Ende rast der Protagonist mit dem Fahrrad durch Wales, weiterhin im Dienst an der Wahrheit, und der Film beschleunigt das Bild, erinnert sich nochmal an all die Zugfahrten und verleiht diesem Gareth Jones mit der Parallelisierung all seiner Fortbewegungsmethoden endgültig den Mobilitätsorden.
Prophet der Geschichte
Geschichte wird vielleicht in Hinterzimmern gemacht, aber für die wirklich wahre Wahrheit braucht es konkrete Ortswechsel, scheint Red Secrets zu sagen. Dieser Gareth Jones ist Journalist und Politikberater aus Wales, geht nach dem Verlust seiner Anstellung beim britischen Premierminister Lloyd George nach Moskau, um Stalin zu interviewen, reist schließlich aber trotz Verbot nach Süden weiter und deckt dort den sogenannten Holodomor auf, jene gewaltige Hungersnot, die das Sowjetregime mindestens billigend in Kauf genommen hatte und die Millionen von Menschen das Leben kostete. Eingeführt wird dieser Jones aber in einer Londoner Szene, in der er die anwesenden britischen Politiker eindringlich vor dem gerade an die Macht gelangten Adolf Hitler und einem möglichen Krieg warnt und von diesen nur Spott und Gelächter erntet. Holland macht aus der historischen Figur Jones einen heldenhaften Propheten.
James Norton in der Hauptrolle trägt diesen Film mit angemessener Biederkeit und kreisrunder Brille, die er nur einmal im Schnee abnimmt. „You’re rather dull, Mr. Jones“, sagt sein späterer Widersacher Walter Duranty (Peter Sarsgaard) einmal, während er nackt vor dem Angesprochenen steht, auf einer Sex-’n’-Drugs-Party, die Holland mit viel Spaß an der Freud’ inszeniert. Man könne ja nun auch aus anderen Dingen Vergnügen ziehen, entgegnet unser Held, der vor allem herausbekommen will, wie Stalin sein Wirtschaftswunder finanziert. Und an diesen Battle zwischen Dekadenz und journalistischer Rechtschaffenheit sollen wir uns wohl auch erinnern, wenn Red Secrets uns in der Ukraine mit den Gesichtern der Hungernden konfrontiert.
Kraftloses Pathos der Wahrheit
Ansonsten klappert der Film gewissenhaft die Stationen der Affäre ab: Rückkehr nach Moskau, Veröffentlichung der Aufdeckungsartikel, die sofortige Gegenpropaganda von Duranty und anderen Diplomaten, die in ihrer Verteidigung der Sowjetunion vor nichts zurückschrecken, der Showdown um die Wahrheit. Klar klingt dann auch zuverlässig viel Aktuelles an, von der wirtschaftlichen Kooperation mit diktatorischen Regimen bis zur furchtlosen Wahrheitssuche im Kugelhagel alternativer Fakten. Gerade in Bezug auf letzteres Motiv wirkt Red Secrets aber auch ein wenig angestaubt. Zumindest ließe sich fragen, ob die Figur des prinzipientreuen Reporters, der den Mächten den Kampf ansagt und so lange fightet, bis die ganze Welt die ganze Wahrheit erfahren hat, noch ein zeitgemäßer Held ist, wo noch jedes unabhängige Medium mit leichter Hand unter Propagandaverdacht gestellt wird und sich das Pathos der Wahrheit immer häufiger wie ein Ideal ohne Wirkung anfühlt.
Ansonsten liefert Red Secrets einen weiteren Beitrag im Subgenre der Wiederentdeckung vergessener Figuren der Weltgeschichte ab, souverän inszeniert, wenn auch nie wirklich spannend. Der Held ist Held, alles sitzt an seinem Platz und ist gut ausgeleuchtet, man lernt etwas dabei. Ein wenig mehr Bedeutsamkeit spendiert noch George Orwell (Joseph Mawle), der am Anfang und am Ende ein paar Zeilen aus seiner Farm der Tiere vorträgt, die durch Jones’ Aufdeckungskampagne inspiriert wurde. Der Aufruf dieses Films ist also immerhin konsequent: Hinfahren, hingucken, aufschreiben, abstrahieren: den Lauf der Geschichte ändern, nicht im Hinterzimmer, sondern in Bewegung.
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