Memphis – Kritik
Tim Sutton hat einen Film über, oder besser gesagt: um den Musiker Willis Earl Beal gemacht. Weil dessen Musik kaum zu hören ist, wird alles zu Musik.

Zwei Tage eines Festivals, zwei Szenen. In Class Enemy nimmt der oberstrenge Lehrer Thomas die zurückhaltende Sabina zur Seite, die unter den Klassenkameraden für ihre Klavierkünste bekannt ist. Auch Thomas lobt ihr Talent und will sie dazu animieren, es nicht zu verschenken. Dazu reicht er ihr ein Wörterbuch. Den Begriff „Versager“ soll sie nachschlagen. Nachdem Sabina die Definition vorgelesen hat, fragt Thomas sie: Willst du das werden? Eine Versagerin? Das Mädchen schweigt ängstlich. In Memphis ist der Sänger Willis Earl Beal schon deutlich weiter. Wir sehen ihn in TV-Interviews und im Tonstudio. Ein Gönner wäscht ihm dennoch den Kopf, als Beal ihm von einer Schreibblockade erzählt. „Talent comes with a price“, sagt er. Das Talent, das Gott einem mit auf den Weg gegeben hat, müsse man nutzen, dürfe man nicht vergeuden. Zwei Szenen, zwei Filme, zwei Kontexte. Slowenien und die Südstaaten der USA. Zweimal geht es um musikalisches Talent und die Pflicht, es zu nutzen, einmal über die Beschwörung eines drohenden Stigmas, einmal in der Anrufung göttlichen Willens. Das Können nicht vergeuden, das Potenzial ausschöpfen, die Ressourcen nutzen. Auch Gott fördert und fordert und mag keine Versager.
In Class Enemy geht die Ermunterung der talentierten Pianistin ziemlich unmittelbar schief. In Memphis hallt das Gebot zur Kunst nach, vor allem wenn wir Beal dann mal ein paar Takte singen hören. Weil der Song aber sofort wieder abgebrochen wird, von Beal selbst oder einem Schnitt, wollen wir den Künstler tatsächlich zur Kasse bitten und verdammen seine eigentlich doch grundsympathische Verweigerung. Aber ist diese Verweigerung die einzig mögliche Form des Widerstands gegen die neoliberale Aktivierungslogik? Ist es um verschenkte Vermögen, ungenutzte Ressourcen nicht tatsächlich schade? Brauchen wir nicht fördernd-fordernde Impulse von außen, auch für die Schönheit? Braucht Willis Earl Beal sie?
Leben gleich Kunst gleich Leben

„Life is artifice“, sagt Beal zu Beginn von Tim Suttons Film in einem (echten? gestellten?) Interview und lässt uns die Frage nach dem dokumentarischen Gehalt der folgenden Bilder von vornherein selig ignorieren. Das Motto ist für Memphis aber nicht nur Meta-Kommentar, sondern Funktionsprinzip. Sutton vernäht den Lebensalltag und die Kunstproduktion Beals so, dass wir die Nahtstellen irgendwann nicht mehr erkennen: Spaziergänge durch die Stadt, die Begegnung mit einer Freundin, immer wieder ein Junge auf einem Fahrrad, der mit dem Sänger anscheinend nicht weiter bekannt ist. Dazwischen, wie gesagt, Versuche des Schaffens: Im Tonstudio hören wir ein paar Takte, dann folgt ein Schnitt. Ein anderes Mal werden die Aufnahmen unterbrochen, weil der Gitarrist einen Verbesserungsvorschlag hat. Dann wieder Schnitt.
Der Schnitt als Versager

Memphis klärt damit eine verklärte Vorstellung von Kunst und verunklart zugleich deren äußere Abgrenzungen. Die kulturelle Produktion im engeren Sinne, sie ist mühsam und durchzogen von Blockaden. Durch das Aufstauen musikalischer Energie holt Sutton den Prozess ins kulturelle Produkt, die Arbeit ins Werk. Nicht Alkohol, Drogen und dazwischen geniales Schaffen, sondern viel Mühe und Zweifel, ständiges Gebremst-Werden. Doch die aufgestaute Energie bricht sich auf einer anderen Ebene Bahn. Die Bremse in der Musik wird zum Motor einer Kino-Maschine, deren Einschnitte und Abbrüche nichts abschließen, sondern eine Bewegung generieren, die von innen nach außen führt und all das in einen Kreis einschließt, was zuvor voneinander getrennt erschien: Alltag, Leben, Gespräche, Bilder, Momente, andere Menschen – alles gehört jetzt zu Beals Musik. „You are nothing, nothing is everything“, hat Beal seinem Publikum vor dem Film mit auf den Weg gegeben. Darin drückt sich die Spiritualität der Beal-Persona aus, doch dieses Credo beschreibt zugleich die Erfahrung eines Films, in dem jedes Bild so viel (oder so wenig) bedeutet wie das ihm folgende. Beals pantheistische Philosophie übersetzt sich in eine Art animistische Montage. Diese Montage stiftet weder narrative noch thesenhafte Zusammenhänge, sie hängt die impressionistischen Bilder vielmehr fein säuberlich auseinander, konstruiert dabei eine Gleichheit zwischen ihnen, die jede Trennung wieder aufhebt. Aus dem Bruch mit dem einzelnen Bild, nicht aus dem Abrufen seines Potenzials, zieht der Film seine Kraft. Das Schaffensgebot wird durchkreuzt und damit befolgt. Der Schnitt ist ein höchst produktiver Versager.
Das Talent will nicht Karriere machen

Gnadenlos unter- und zugleich überdeterminiert auch dieser Junge auf dem Fahrrad, der immer wieder auftaucht. Einmal, kurz nach dem Satz mit dem Talent, sieht er direkt in die Kamera, und uns kommen naheliegende Assoziationen. „Noch“ kennt er diese Fragen nicht, „er“ muss seinen Weg erst finden, er hat noch „Zeit“ dafür, er weiß noch nichts vom „Leben“. Doch schon im nächsten Moment schließt ihn der Film ein in seinen Kreis. Der Junge steigt mit den Füßen auf seinen Lenker, vollführt ein Kunststück, seine Figur wird Körper, der Junge damit zum Nichts, das alles ist. Hier ist kein „er“, der noch „Zeit“ hat, dem seine Jugend noch vor dem „Leben“ bewahrt, dieses „Noch-nicht“ ist Unsinn. Der Körper ist schon mittendrin im Spiel der erfüllten und unerfüllten Vermögen. Hier nun ein Vermögen, das nicht an eine göttliche Gabe, an eine persönliche Eigenschaft gebunden ist, nicht auf jenen Horizont von Erfolg oder Versagen verweist, den der Lehrer in Class Enemy beschwört, sondern auf einen zeitlich begrenzten Möglichkeitsraum. „The moment seizes us“, heißt es in Boyhood. Das Talent steckt nicht in der Person, sondern im Moment, es will nicht Karriere machen – zumindest im Kino. Memphis ist deshalb kein Künstlerporträt, zum Glück auch kein Thesenfilm, sondern visueller Blues, in dem sich Momente des Schaffens und Momente des Scheiterns durchdringen und für die gleichgültige Montage als dasselbe erkennbar sind: winzige Schönheiten im stetigen Abbruch.
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