Sanfter Schlamm – Kritik

Verwundete Gegend: Renārs Vimbas Erstlingswerk Sanfter Schlamm erzählt von Fluchtbewegungen aus der lettischen Provinz und vor allem von den Spuren, die sie hinterlassen. Die dableiben, stochern in Pfützen herum oder zünden Gebäude an.

Der Anfang gleicht einem plötzlichen Augenaufschlag. Vom Schwarzbild werden wir direkt in eine Welt geworfen und blicken als Erstes auf zwei Paar Gummistiefel, die durch Schlamm und Pfützen waten. Das kleinere Paar vertritt sich manchmal, rutscht ein wenig ab und muss sich wieder fangen. Das größere ist sicherer, hat es aber auch nicht leicht. Der erste Schnitt sorgt für mehr Klarheit: Zwei Geschwister laufen da. Links: Raya, die Ältere, 17 Jahre alt. Rechts: Robis, der Jüngere, um die 13. Schlamm und Pfützen sind Teil von Fahrspuren, die sich mitten durch ein Feld aus kahlem Gestrüpp ziehen. Robis schlägt mit seinem Stock ein wenig in die Pfützen. Erst nur leicht und beiläufig, dann immer stärker und gezielter, als wolle er der Pfütze das gesamte dreckige Wasser austreiben. Raya treffen ein paar Spritzer, und spätestens nach der zweiten Ermahnung muss Robis weglaufen. Raya versucht hinterherzukommen, doch nach nur einem Schritt hat die Verfolgungsjagd ihr jähes Ende gefunden. Ihr Schuh steckt im Schlamm fest, und sie muss sich, bewegungsunfähig, ihre Niederlage eingestehen.

Handfester Stillstand

Sanfter Schlamm (Mellow Mud), das Regiedebüt des lettischen Filmemachers Renārs Vimba, kommt gleich mit dieser ersten Szene zum Kern seiner Erzählung. Das Auf-der-Stelle-Treten ist nicht nur szenischer Einstieg, sondern Metapher für Rayas und Robis’ Realität: Sie bewohnen zusammen mit ihrer Großmutter eine abrissreife Holzhütte in der provinziellen Tristesse Lettlands. Der Herd ist ein Loch, in dem Feuer gemacht wird, und wo das Grundstück wegen des ganzen Schlamms nur zu Fuß erreicht werden kann, kommt das Internet sowieso nicht hin. Eine gezeichnete Gegend, man sieht es sofort, wenn die Kamera ihren Blick auf die Fahrspuren richtet, die sich wie Wunden die Feldwege entlangziehen; Spuren einer immer stärker werdenden Fluchtbewegung aus dieser Gegend. Rayas Mutter hat das Land schon vor längerer Zeit Richtung London verlassen. Es sind aber vor allem die jüngeren Generationen, die hier keinerlei Perspektive für sich finden können. Später werden Robis und seine Freunde ein altes, längst leerstehendes Gebäude anzünden – wie das Schlagen in die Pfützen ist das reiner Zeitvertreib und destruktiver Ausdruck von Frust gleichermaßen.

Abwesenheit von Flucht

Wenn bei Vimba Schule ist, dann heißt das Englischunterricht. Die Sätze, die die Schüler vorlesen müssen, handeln von zukünftigem Wohlstand und von Reisen nach London. Eine ganze Generation, die der Katalysator für Modernisierung sein könnte, doch – so wird es immer deutlicher – für die Flucht ausgebildet wird. Dafür fällt Raya unter ihren Mitschülern schnell als die Geeignetste auf: Sie gewinnt bei einem Englisch-Wettbewerb eine Reise in die britische Hauptstadt. Aber dann sind es Rayas Freunde, die in ihrem klapprigen Auto über den Feldweg das Land verlassen, und wir sehen sie nie mehr wieder. Dass Raya und Robis bleiben, Vimba die Flucht für sie gar nicht vorsieht, ist angesichts dieser trostlosen Gegend eine fiese Setzung für die beiden. Aber wer für immer geht, der kann nicht helfen, und so gebraucht Sanfter Schlamm diese Abwesenheit von Flucht als eine Art Fundament des Fortschritts. Als die Großmutter stirbt, ist das nicht etwa die Chance, endlich zu verschwinden, sondern eine alte Generation hinter sich zu lassen, das eigene Haus umzugestalten und den kaputten Bäumen da draußen buchstäblich einen neuen Anstrich zu geben. Und selbst als die Schule abgeschlossen ist, das Leben beginnen könnte, endet die Reise nach London doch wieder hier, und Raya muss sich dann selbst durchschlagen. Die Kamera nähert sich dabei entsprechend ruhig und beobachtend, lässt dem – übrigens größtenteils mit Laiendarstellern besetzten – Figuren genug Platz, um sich in dieser oft hoffnungslosen Welt zu behaupten.

Ausbruchfreies Coming-of-Age

Bei der so eindringlichen Schilderung lettischen Landlebens kann man leicht vergessen, dass Sanfter Schlamm natürlich auch ein Coming-of-Age-Film ist: Raya macht Liebeserfahrungen mit ihrem Lehrer, Robis hat in seinen jungen Jahren die ersten Kontakte mit maßlosem Alkoholkonsum, und beide müssen sich mit wenig Geld irgendwie durchschlagen. Aber auch wenn die Figuren daran und vor allem an ihrer tristen Lebenswelt wachsen, geht es Vimba nicht um einen einfachen Ausweg. Die Suche nach einem alle Vorzeichen umkehrenden Ausbruch bleibt aus. Stattdessen verharrt er mit den Figuren vor Ort, als genauer Beobachter eines Zustands, aus dem sich seine Figuren am Ende doch selbst werden lösen müssen. Er kann ihnen nur eine grobe Richtung vorgeben, und so ebnet Vimba den Weg nicht einfach, er lässt ihn schlammig.

Den Film gibt es bei den meisten größeren Streaming-Plattformen.

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