Medium – Kritik
VoD: Zehn Jahre rührte die Pianistin Margarita Fernández kein Klavier an. Der Essayfilm Medium macht sich mit ihr auf die Suche nach der richtigen Geste, die schon Teil der Kunst ist, bevor ein Ton zu hören ist.

Zehn Jahre lang rührte die argentinische Pianistin Margarita Fernández kein Klavier an. Sie schrieb in dieser Zeit unter anderem einen Essay über die Schauspielkunst von Greta Garbo oder hörte Vorträge über elektroakustische Musik. Was nach Jahren des erfolgreichen Konzertierens für die Öffentlichkeit nach Aufhören aussah, war für Fernández ein Umweg, um sich der Musik wieder zu nähern.
Zwischen Garbo und Brahms

Erst am Ende von Edgardo Cozarinskys Essayfilm Medium erzählt die über 90 Jahre alte Pianistin von diesen zehn Jahren ohne Klavier und Konzerte. Nach vielen Erinnerungen an ein von Musik erfülltes Leben, Archivaufnahmen von Konzerten und dem Austausch mit einem jungen Cellisten wirkt das wie ein Schlag, wie die Leerstelle in einer arrivierten Musikerbiografie. Doch für Fernández war Musik nie nur auf das Instrument beschränkt. Und so muss auch Cozarinsky über das konventionelle Porträt einer Pianistin hinausgehen und seine Protagonistin als ein Medium betrachten. Die Gründe für eine Musikerin, ihr Instrument für eine so lange Zeit aufzugeben, sind vielfältig und wahrscheinlich kaum vollständig zu verstehen. Der Film versucht sich auch gar nicht an einer Erklärung. Doch wird durch ihre frühere Erinnerung an eine Szene aus dem Garbo-Melodrama Königin Christina (Queen Christina, 1933) klar, dass Fernández’ späte Auseinandersetzung mit dem Hollywoodstar kein abseitiges Hobby ist. Die Schauspielerin tritt hier mit ihren Gesten und ihrem Ausdruck gedanklich neben den Komponisten Johannes Brahms, dessen Musik laut Fernández eben auch nach ganz eigenen Gesten verlangt. Musik fängt nicht beim Spielen an und hört auch nicht auf dem Instrument auf.
Bei der Suche nach der richtigen Geste geht es für Fernández um alles oder nichts. Brahms fordere eine andere körperliche Haltung ein als Chopin, und diesen Unterschied führt die Musikerin sogleich vor. Bevor sie Brahms’ „Intermezzo Nr. 3“ spielt, streicht sie mit ihren Händen über die Tasten, blättert in den Noten mit jener Vorsicht, die bei den alten, zerschlissenen Seiten geboten ist. Cozarinskys lange Einstellungen machen klar, dass diese Gesten, diese Handarbeit, bereits Teil ihrer Kunst sind, bevor der erste Ton zu hören ist.
Wer denkt bei Bildern eines Laubwalds an Schubert?

Durch die Geste und den Vollzug der Aufführung steht die Musik dem Theater nahe. Fernández geht es aber nicht darum zu zeigen, wie das eine im anderen steckt. Sie beginnt mit dem nicht klar zu benennenden Unterschied, einem „dunklen Niemandsland“ zwischen dem Musikmachen und dem Theater. Medium stellt den Momenten am Klavier Aufzeichnungen von Performances gegenüber. Auch ein Maler und eine Tänzerin werden bei ihrer Beschäftigung mit Musik gezeigt. Brahms’ Musik, die von der Interpretin eine bestimmte körperliche Geste voraussetzt, setzt bei den Zuhörern potenziell unzählige, unberechenbare Gesten frei. Während die Interpretin sich ganz auf die Noten konzentrieren, aber auch die korrekte körperliche Einstellung finden muss, ist der Zuhörer der Musik keineswegs ausgeliefert. Cozarinsky lässt uns gerade mit einer exakten, langsamen filmischen Inszenierung miterleben, wie dieser Prozess nicht umkehrbar ist. Ein „Impromptu“ von Franz Schubert, erklärt Fernández lächelnd, könne die Fantasie der Zuhörer derart anregen, dass sie Bilder von herbstlichem Laub sehen. Aber wer wird bei den Bildern eines Laubwaldes an Schubert denken? All dies sind Gedankenspiele, die Fernández ebenso souverän wie mit beglückender Nachdenklichkeit anstellt.
In Königin Christina betritt Greta Garbo als schwedische Königin einen dunklen Raum und scheint darin zu verschwinden; als sie ihn verlässt, hat sie abgedankt. Fernández ist davon überzeugt, auch nach mehrmaligem Sehen des Films, Garbo gehe in dieser Szene über Wasser. Wie Garbo wagt sich Fernández immer wieder in einen dunklen Raum, in ein Niemandsland, in dem Gesten selbstständig werden und die Zuhörer oder Zuschauer zu den Regisseuren ihrer eigenen Fantasie.
Den Film kann man bis zum 29.05.2020 kostenlos im Arsenal 3 sehen.
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