Madeline's Madeline – Kritik
Jedes Wackeln der Handkamera ein Erdbeben, jeder Schnitt ein Riss in der Realität: Josephine Decker nimmt uns in Madeline’s Madeline mit auf einen Höllenritt durch die Psyche eines labilen Teenagers.

Psychische Eskalation – das ist wohl das Kernmotiv in den drei bisherigen Filmen der jungen US-Regisseurin Jopsehine Decker. In ihrem starken Debüt Butter on the Latch (2013) schickt sie zwei alte Freundinnen in einen tiefen Wald, der zusehends ihre Sinne affiziert, während Freundschaft und Contenance langsam zerbröseln. Thou Wast Mild and Lovely (2014) folgt einer jungen Frau, deren sexuelles Begehren sich immer stärker mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen vermischt. Ihr neues Werk Madeline’s Madeline beginnt mit einem vielleicht 16 Jahre alten Mädchen, das miaut, schnurrt, auf allen vieren durch die Wohnung tigert und sich allem Anschein nach für eine Katze hält.
Kurz danach sehen wir sie als Schildkröte über einen Strand kriechen. Diese grotesken Kontextverschiebungen erinnern ein wenig an die verstörenden Welten von Yorgos Lanthimos. Doch es ist alles nur Theater: Die Teenagerin Madeline (Helena Howard) spielt in einer experimentellen Performance-Truppe mit, die von der ehrgeizigen Evangeline (Molly Parker) geleitet wird. Der Probenraum ist Madelines Zufluchtsort: In der Schule wird sie gehänselt, zu Hause lauern die besorgten Fragen und Ratschläge ihrer überforderten Mutter (Miranda July). Wie wir bald erfahren, sind deren Sorgen nicht unbegründet: Madeline hat vor Kurzem mehrere Woche in der geschlossenen Psychiatrie verbracht.
Wenn die Fantasie die Realität überlagert
Was das Schauspiel von ihr verlangt, ist zugleich die größte Bedrohung für Madeline: Das Einswerden mit einer Fiktion, der performative Selbstverlust. Je mehr sie sich in ihre Rolle hineinsteigert, desto mehr verliert sie an Kontrolle über ihren Geist und ihr Leben. Diese Abwärtsspirale wird noch beschleunigt durch den Machtkampf, der sich zwischen den drei Frauen entspinnt: der verzweifelten Mutter, der Regisseurin Evangeline, die in ihrer Euphorie übersieht, wie sehr sie ihre talentierte Schülerin ausbeutet und in Gefahr bringt – und Madeline, die immer weniger zwischen Realität und Fantasie unterscheiden kann.
Josephine Decker übernimmt diese psychische Desintegration in die Form des Films. Die Kamera verliert jeglichen Sinn für Distanz, kommt Madeline immer wieder in extremen Close-ups zu nah. In diesem wie von Scheuklappen eingeschränkten Tunnelblick wirkt jedes Wackeln der Handkamera wie ein Erdbeben, jeder Schnitt wie ein Riss in der Realität. Unschärfen bemächtigen sich der Bilder – sie geraten dermaßen out-of-focus, dass sich Formen zu verdoppeln beginnen. Surreale Farben legen sich über das Geschehen, die Tonspur wird mal abgeblendet und mal von irritierenden, non-diegetischen Keuch-, Fauch- und Bell-Lauten übernommen.
Tief durchatmen
Die verzerrte Wahrnehmung einer psychisch gestörten Figur auf den Zuschauer zu übertragen ist an sich natürlich kein neues Konzept. Allerdings gelingt Josephine Decker das in einer solchen Intensität, dass die Sinneserfahrung in manchen Momenten fast unerträglich wird. Mit dem hektischen Schnitt, der nervösen Kamera und einem wilden Soundtrack erzeugt sie einen Grad von Immersion, den nur wenige andere Filme erreichen. Es fällt schwer, diesen Höllenritt durch die Psyche eines labilen Teenagers zu lieben. Doch wenn man nach dem Verlassen des Kinosaals kalte Luft, tiefe Atemzüge und einige Minuten Zeit braucht, um auch die filmische Welt zu verlassen – dann ist das ein ziemlicher Triumph der Regisseurin.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Madeline's Madeline“

Trailer ansehen (1)
Bilder


zur Galerie (2 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.