Little Boy – Kritik

Berlinale 2025 – Forum: Eine ominöse Miniaturwelt, durchschallt von Popsongs und politischen Ansprachen. In little boy misst James Benning die Endzeitdebatten der letzten Jahrzehnte aus. Vor dem Abdriften ins Anekdotische rettet den Film seine kindlich-unbedingte Überzeugung, dass dringend etwas getan werden muss.

Das Kino von James Benning, so würden wohl manche sagen, vermag einem vor Augen zu führen, wie spannend und lehrreich es sein kann, Farbe beim Trocknen zuzusehen. In little boy passiert sowas wie das Gegenteil: Farbe wird aufgetragen. Mutmaßlich aus dem 3D-Drucker gespuckte Bauteile, graue Miniatur-Fassaden, die sich zu Gebäuden zusammenstecken lassen, werden von geschulten Händen bunt bepinselt. Akribisch gehen die Hände vor, linke Hände, rechte Hände, unterschiedlich stark behaarte, verschiedentlich beärmelte und weder nach Alter noch nach Geschlecht klar unterscheidbare Hände. Es kommt ohnehin mehr darauf an, was die Hände verrichten: wie geschickt oder ungeschickt sie unbemalte Stellen erwischen, wie beherzt oder zaghaft sie den Pinsel führen.

Welchen Zweck die bemalten Gebäude erfüllen könnten, ist schwer zu sagen; frei von industriellem Charme ist diese Modelleisenbahnstaffage jedenfalls nicht. In pastelligen Tönen und gut ausgeleuchtet stehen sie da, wenn die Hände ihren Dienst getan haben und alles bemalt und zusammengesteckt ist – die Fertigungskette bekommen wir, man darf das bedauern, nicht in aller Ausführlichkeit gezeigt, die Farbe ist auch ohne unser Zusehen getrocknet. Das Endprodukt auf den ersten Blick: diffus amerikanisch, natürlich alles in Miniatur, einerseits groß auf der Leinwand, andererseits auch eng gerahmt, von schwarzen Rändern als künstliches Bild ausgestellt.

Das diffus Amerikanische konkretisiert sich beim Lesen der Schriftzüge, die auf manchen Gebäuden angebracht sind: Northrop Grumman, General Dynamics, Raytheon – alles Namen von US-Rüstungsunternehmen, was dem industriellen Charme zwar nicht direkt Abbruch tut, aber doch einige Anschlussfragen aufwirft, vor allem hinsichtlich der vom Titel little boy vielleicht ja doch eher ironisch suggerierten kindlichen Unschuld der ganzen Angelegenheit. Spätestens wenn der schweifende Blick, den man in anderen Filmen Bennings bereits eingeübt hat, einen nicht weiterträgt, dann sollte man hinhören, denn auch das ist eine Fähigkeit, die Bennings Kino lehrt. Auf der Tonspur berichtet nämlich der kleine Junge aus dem Titel auf Nachfrage von seinen jüngsten schulischen Erkenntnissen: I learned that war is not so bad / I learned about the great ones we have had / We fought in Germany and in France / And some day I might get my chance.

Call-and-Response-Spielchen zwischen Politik und Pop

Pete Seegers satirisches Protestlied What Did You Learn in School Today setzt nicht nur einen unmissverständlichen Kontrapunkt zur modellierten Welt der betulich hindrapierten Spielzeugecke, er setzt auch einen Maßstab zum Außen dieser Welt. Was Benning zeigt, sind keine Bilder der Welt in Normalgröße; was er zu hören gibt, sind sehr wohl Chiffren des realen Krieges. Diese Chiffren lässt Benning zum einen kulturell codiert in Form von Popsongs auftreten – u.a. von Sinéad O’Connor, Tracy Chapman und Nat King Cole –, zum anderen, und alternierend dazu, spielt er markante politische Reden aus den letzten Dekaden US-amerikanischer Geschichte ein. Ausgangspunkt: Eisenhowers farewell address 1961, in der er von Aufrüstungserfordernissen im Kalten Krieg (kurz vor der Kuba-Krise) erzählt und fast nebenbei die Verflechtung von Militär und Produktion unter dem berühmt gewordenen Begriff des military industrial complex subsumiert. Das darauffolgende Lied der Shirelles nimmt Eisenhowers Worte ironisch auf und gibt dem Filmtitel eine zynische Wendung: Soldier boy / Oh, my little soldier boy / I'll be true to you.

Es folgen weitere Call-and-Response-Spielchen, wobei nie ganz klar wird, ob nun der Song auf die Rede antwortet oder andersherum – oder ob nicht doch alle ins gleiche Horn blasen, das Benning ihnen hinhält. Denn Benning arbeitet sich in ziemlich großen Sprüngen bis zur ersten Trump-Präsidentschaft vor. Die Bürgerrechtsbewegung und ihre Gegner kommen zu Wort, von da geht es direkt in die 80er zu den unmenschlichen Arbeitsbedingungen mexikanischer Landarbeiter*innen bei der kalifornischen Knoblauchernte. Erstmals klingt hier auch die Umweltproblematik an, die – nach einem Reagan-Statement zum Ersten Golfkrieg – ab den 90ern dann mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Die Auswahl entzieht sich dem Anspruch, eine – was auch immer das hieße – lückenlose Geschichte des Militarismus aufzurollen, eher setzt sie kursorische Schlaglichter und rhetorische Pointen, die durch die Art der Montage etwas genealogisch hervortreten lassen. Aber was eigentlich?

Ein Knurren, das warnt: als nächstes ist die Menschheit dran

Man verliert sich schnell im Anekdotischen, wenn man die eigentlich simple Struktur von little boy nachzuzeichnen versucht, weil sie einerseits permanent in Nebenschauplätze auszufransen droht, und andererseits genau zu wissen scheint, welche roten Fäden das Diskursmaterial im Innersten zusammenhalten. Dieses Innerste ist vielleicht am ehesten eine Haltung: Benning, der 82-Jährige, liest die Gegenwart mit der Vergangenheit, versetzt sich in die Position des kleinen Jungen, der von der Welt nicht viel weiß, der aber doch ahnt, dass vieles falsch läuft und dringend etwas getan werden muss. Den gleichen Tenor hat die Rede eines little girl im Film: Severn Cullis-Suzuki, die 1992 als Zwölfjährige auf dem Earth Summit in Rio zu überfälligen Maßnahmen gegen Artensterben und Klimawandel aufruft: Make your actions reflect your words. Seitdem die Geschichte für beendet erklärt wurde (und dann doch weiterging), ist das Endzeitszenario der letzten Generation vielleicht nicht mehr der Atomkrieg, aber doch immer noch die menschengemachte Zerstörung der Welt. Was auf dem Spiel steht, wird im Prolog ausbuchstabiert: das Aussterben der Dinosaurier vor 65.000.000 Jahren, ein Skelett und ein Knurren, das warnt: als nächstes die Menschheit.

Ohne Pathos kommt little boy nicht aus. Aber aus den großen Gesten spricht die aufrichtige Sorge um eine nach wie vor und zunehmend bedrohte Zukunft. Und die jüngste Vergangenheit verspricht keine Besserung. Wenn in der Politik auf Worte Taten folgen, ist das nur erstrebenswert, solange kein Faschist im Weißen Haus sitzt. Wenn Bennings Blick in die Geschichte eines lehrt, dann das: Die Rhetorik ist heute nur anders brutal, Amerika bleibt seiner Hybris treu (zu hören in The Greatest, Cat Power). James Benning ist zurecht besorgt, deswegen trägt er angemessen dick auf. Die doomsday clock steht auf fünf vor zwölf und sie hat zu ticken nicht aufgehört. Baby, look at that clock / Why can't it be wrong? (It’s late, Ricky Nelson).

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