Limbo – Kritik

Neu auf DVD: Kein neonfunkelndes Farbenmeer, keine schrill gestalteten Hemden. Hongkong wird in Soi Cheangs Thriller Limbo zum Relief aus Graustufen, in dem Mensch und Müll bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen.

„Limbus“ bezeichnet in der katholischen Theologie so etwas wie die Vorhölle, den Vorraum, in dem manche Seelen, von göttlicher Gnade ausgeschlossen, auszuharren haben. Das Oxford Dictionary schlägt für den englischen Begriff „Limbo“ zudem den Zustand des Wartens auf eine ausstehende Entscheidung sowie den der Vernachlässigung vor. Der gleichnamige internationale Verleihtitel von Soi Cheangs nun in Deutschland auf Blu-ray erscheinenden Hongkong-Thriller (2021) transportiert so dessen düstere Grundhaltung ziemlich genau.

Der kantonesische Originaltitel lautet allerdings wie die Literaturvorlage Weisheitszahn. Im Film taucht so ein Zahn eigentlich nur am Rande auf; er plagt Will Ren (Mason Lee), den frisch von der Polizeiakademie entlassenen Vorzeigebeamten. Und dabei hat der mit seinem Kollegen Cham Lau (Gordon Lam) – wiederum das Gegenteil eines nach Protokoll arbeitenden Polizisten – seinen ersten großen Fall zu lösen, eine Mordserie inmitten der Metropole. Gegen Ende des Films wird ihm der Zahn dann fast schon ironisch vom Täter herausgeschlagen, die Kamera zeigt ihn uns in einer für den Film untypischen Detailaufnahme, die geradezu zu sagen scheint: Seht her, der Weisheitszahn! So ein Zahn ist oft ein Fremdkörper, zu nichts gut. Mal koexistiert er mit den restlichen, besser holt man ihn aber heraus. Im Zahnmotiv steckt wohl eine Metapher, die mit dem vorhöllenartigen Stadtbild zu tun hat, das uns Limbo zeigt: Es geht ums Randständige, ums Ausgestoßene.

Zugemüllte Existenz

Seit gut vierzig Jahren durchmisst das Hongkong-Genrekino nun schon exzessiv seinen Schauplatz. Fans dieses Kinos kennen die Straßenzüge, Neonreklamen, Serpentinstraßen und Friedhöfe quasi wie ihre eigene Westentasche. Doch ein Hongkong wie in Limbo hat man so bislang noch nicht gesehen. Es ist, als ob hier unterschiedliche Städte in einer zusammenfielen, als ob sich die offiziöse und die untergründige Stadt auf einer Ebene und eben nicht wie noch in den dystopischen Entwürfen etwa von Metropolis (1926) oder Total Recall (1990) in getrennten Schichten organisierten.

In Limbo ist der Vorraum zur Hölle Alltag geworden. Wir sehen ein vom Regen durchspültes Hongkong voller Müll und chaotisch verbauter Seitengassen. Dass gleich nebenan Hauptstraßen und Schnellbahngleise inmitten imposanter Skylines verlaufen, erahnt man eigentlich nur durch die ab und an zwischengeschalteten Totalen aus der Luft. Diese Stadt funktioniert nicht, spricht jedes Bild aus. Es ist, als wären die Arterien ihres Organismus verstopft, als stünde er kurz vorm Kollaps. Folgerichtig findet die Polizei an unterschiedlichen Orten auch geschundene Körper vor, speziell abgetrennte Hände von jungen Frauen, die sich später, einmal identifiziert, allesamt als Randfiguren der Gesellschaft herausstellen: Illegale Immigrantinnen, Prostituierte, Drogenkranke. Niemand scheint sie vermisst zu haben, bis die verstörenden Beweise ihrer Existenz demonstrativ aus den Müllbergen ragen.

Hongkong als Relief

Mensch und Müll verschmelzen in Limbo manchmal bis zur Unkenntlichkeit ineinander; Vorder-, Mittel- und Hintergründe verlieren ihre Hierarchie. Dafür ist vor allem die Schwarzweißästhetik des Films verantwortlich – noch so ein Element, mit dem man im Hongkonger Gegenwartskino kaum rechnet (und kurioserweise war der Filmtrailer noch in Farbe, was man der extrem durchkalkuliert wirkenden Optik nicht anmerkt). Das Schwarzweiß homogenisiert die Bildelemente; die extreme Tiefenschärfe der Scope-Kader tut ihr Übriges, die schlauchigen Außen- und Innenräume, selbst die Tag- und (restbeleuchteten) Nachtsettings merkwürdigerweise einander anzunähern. Liebgewonnenes fällt dabei weg: Kein neonfunkelndes Farbenmeer, keine schrill gestalteten Hemden, kein bläulicher Schimmer am Hafen, kein sattes Grün der umliegenden Hügel mehr. Hongkong ist zum Relief aus Graustufen geworden. Gerade in den vogelperspektivischen Aufnahmen von Tat- und Leichenfundorten müssen wir uns erst einsehen, bis wir die Individuen ausmachen, die sich dort mühsam durchs Dickicht der Objektwelt schlängelt.

Auf eigenartige Weise entfernen sich die Bilder damit von der porträtierten Welt, sie ziehen eine hochgradig ästhetisierte Ebene ein, die einen mit Distanz aufs Geschehen blicken lässt. Andererseits schafft sich Limbo gerade mit der bildgrafischen Reduktion aber doch seinen eigenen Zugang zu Texturen (auch zu Gerüchen, die wiederholt Thema sind und in den Holzschnittbildern noch einmal mehr Behauptung bleiben als sonst). Soi Cheang scheint es eher nicht um Verfremdung, sondern um die Expressivität der Verunklarung zu gehen.

Kino des Abgesangs

Es ist nicht die erste stilistische Tour de Force des Johnnie-To-Schülers. Schon SPL II: A Time for Consequences (2015), sein Martial-Arts-Film mit dem Ong-Bak-Star Tony Jaa, zog mit seinen geschmeidig parallelisierten Handlungssträngen, den Plansequenzparcours und seinen an Videogames erinnernden Setpieces alle Register des Actionkinos. Sein neuester, dieses Jahr auf der Berlinale präsentierter Film Mad Fate (2023) platzt wiederum farbdramaturgisch – also im Kontrast zu Limbo – aus allen Nähten; ein gialliesker Mysterythriller inmitten eines ähnlich mikrokosmisch labyrinthischen Gegenwartshongkong. Bislang nimmt man den Filmemacher abseits cinephiler Bubbles noch nicht als den rausragenden zeitgenössischen Genre-Auteur wahr, der er ist. Das liegt vermutlich daran, dass er keinen klaren Signature Style etabliert hat, immer von Werk zu Werk schaut, was ihm der Stoff für eine Formensprache diktiert.

In Hongkong selbst ist das anders. Limbo wurde mit dem Hong Kong Film Critic Society Award als bester Film ausgezeichnet. Dass ein so grimmiges Werk bei vergleichbaren Kritikerpreisen in Deutschland oder andernorts auch nur in die engere Auswahl käme, erscheint mir abwegig. Aber auch für Hongkong-Verhältnisse wirkt der Film – vor allem auch im Kontext der aktuellen politischen Entwicklungen – wie ein Abgesang. Ein Abgesang auf ein Kino künstlerischer Kompromiss- und Schonungslosigkeit, auch auf eins, das hellwach von den Abgründen der Moderne erzählt, die man an jeder Straßenecke findet, biegt man einmal von den Hauptpfaden ab. Wäre erstaunlich, wenn Festlandchina sowas nicht bald zu verhindern wüsste …

Neue Kritiken

Trailer zu „Limbo“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.