Nuestra Tierra – Kritik
San Sebastiàn Filmfestival: Bei einer Auseinandersetzung wird ein Angehöriger einer indigenen Gemeinschaft erschossen. Lucrecia Martel beobachtet in ihrem brillanten Dokumentarfilm den Prozess, der blinde Flecken und offene Wunden der argentinischen Vergangenheit und Gegenwart aufdeckt.

Die Sparte „Horizontes Latinos“ bietet auf dem Filmfestival San Sebstiàn eine kompakte Auswahl von bemerkenswerten lateinamerikanischen Filmen aus den vergangenen Monaten. Darunter auch Lucrecia Martels Nuestra Tierra, der bereits in Venedig lief – nicht im Wettbewerb, sondern „außer Konkurrenz“. In gewisser Weise ist Nuestra Tierra tatsächlich ein Film, der mit niemandem konkurrieren will; nichts liegt Martel ferner als sich als die brillante Formalistin hervorzutun, die sie auch, wie hier, im dokumentarischen Modus zweifellos ist. Stattdessen nimmt sie sich bewusst zurück und lässt anderen, die sonst wenig bis nie im Mittelpunkt stehen, den Vortritt.
Es beginnt, einigermaßen pompös, im Weltraum. Zu Chorgesang ein Schwenk auf den blauen Planeten, unsere Erde, auf die es zügig-zoomend hinuntergeht und wo der Film dann auch bleibt. Genauer: Provinz Tucumán, nordwestliches Argentinien, grün geschlungene Hügelzüge allenthalben. Wie in den bereits besprochenen SSIFF-Festivalbeiträgen Copper (und The Fence) ist auch hier ein Mann umgekommen, wenn auch auf weniger rätselhafte Weise. Er wurde erschossen, es gibt ein Video davon. „Mord“ sagen die einen, „Notwehr“ die anderen. Die einen, das sind die Chuschagasta, eine indigene Gemeinschaft, die in diesen Landstrichen lebt und schon immer gelebt hat, von der argentinischen Mehrheitsgesellschaft jedoch ausgegrenzt wird. Die anderen, die auf Notwehr pochen, sind ein Unternehmer und zwei Ex-Polizisten, die den Chuschagasta ihr Land streitig machen und es auf die Schätze im Boden abgesehen haben.
Am 12. Oktober 2009 kommt es zur gewaltvollen Auseinandersetzung, bei der Javier Chocobar von Darío Luis Amín erschossen wird. Lucrecia Martel lässt keinen Zweifel daran, welche der beiden Parteien das „Nuestra“, also „unsere“, in ihrem Titel meint − auch wenn sie sich als weiße Argentinierin diesem „Wir“ nicht ohne Weiteres zurechnet. Am ehesten ist ihr Beitrag eine Form filmischer Solidarität. So verstehe ich auch ihre Aussagen von der Pressekonferenz in Venedig; der internationale Titel Landmarks ebnet diese Mehrdeutigkeiten etwas unglücklich ein.
Indigene Schönheit und Vertreibung
Die juristische Aufarbeitung von Chocobars Tod verzögerte sich aus verschiedenen, teils skandalösen Gründen, sodass der Prozess erst 2018 (und nur dank langwieriger Proteste) stattfinden konnte. Filmaufnahmen aus dem Gerichtssaal bilden den narrativen Rahmen: Vernehmung der Zeug*innen, Reaktionen im Publikum, Gesichter, Tränen, das Hin und Her zwischen Anklage und Verteidigung, rhetorische Tricks und Absurdes. Die Beweisführung des Prozesses beinhaltet ein peinlich genaues Reenactment des Vorfalls am Tatort, bei dem sich die Täter ihrer professionellen Nahkampfmanöver rühmen dürfen, die ihnen der argentinische Staat beigebracht hat. Dieses lächerliche Schauspiel mit ordentlich Medienrummel soll ergänzen, was in einer Videoaufnahme der Tat zu sehen ist. In dieser sieht und hört man, wie sich die Auseinandersetzung verbal anbahnt, dann körperlich wird. Dann sieht man plötzlich nichts mehr und hört nur noch (Schläge, Schüsse, Schreie), weil die Kamera sich im Aufruhr verselbstständigt und kreiselnd zu Boden geht.
Die Drohnenaufnahmen, mit denen Nuestra Tierra immer wieder arbeitet, haben mich zunächst irritiert. Anderenorts sind Drohnen allzu oft Ausdruck banalster Amateurfilmerei oder Symbol moderner Kriegsführung und Überwachung (der Greifvogel, der an einer Stelle Martels Kameradrohne attackiert und zu Fall bringt, scheint dieses Unbehagen zu teilen). Doch Martel gelingen Bilder, die mit der Zeit und vor allem im Verbund mit den engen Aufnahmen aus dem Gerichtssaal etwas Wundersames an sich haben. Anders als in einer glattpolierten Naturdokumentation gleitet die Kamera nicht bruchlos über die Landschaften hinweg; manchmal wechselt sie abrupt die Richtung und gibt so ihr technisches Wesen frei. Inmitten aller Problematisierung kolonialer Blickweisen insistiert sie auch auf einer Idee von Schönheit, die schwer zu leugnen ist, obwohl sich die Vertreibung indigenen Lebens über Jahrhunderte in diese Landschaften eingeschrieben hat. Ein Jogger kämpft sich die Hänge hinauf. Zwei Pferde fühlen sich beobachtet und galoppieren davon. Keine großen Bilder. Und doch.
Verschleierungsapparat der Justiz

Die schwer zu greifende Wirkung dieser Aufnahmen hat mit der Perspektivverschiebung zu tun, die der Film vornimmt: Martel stellt dem Gerichtsprozess, den sie dokumentiert, ihre eigene Form der Beweisführung zur Seite − oder besser: entgegen. In behutsam eingepflegten Kapiteln erzählen Mitglieder der Chuschugasta-Gemeinschaft und Weggefährt*innen Javier Chocobars (darunter seine Witwe) von ihrem Leben in dieser Landschaft − dem Zuckerrohranbau, den Alltagsproblemen, den Schulen, in denen indigene Geschichte nicht unterrichtet wird, aber dafür die „Entdeckung“ Amerikas. Man erfährt viel über blinde Flecken und offene Wunden der argentinischen Vergangenheit und Gegenwart. Dazu sind Fotografien aus privaten Alben eingeblendet, auch einige Videos; insgesamt geht es in Richtung Oral-History-Collage
Durch die Gegenüberstellung von Gerichtssaal und lebendigem Archiv entlarvt Martel die vermeintliche Präzision juristischer Sprache mühelos als Verschleierungsapparat, der Ungerechtigkeiten in systematischer Schieflage belässt, anstatt sie auszugleichen. In Dialog mit ihren Peinigern zu treten, sagt ein Mitglied der Chuschagasta, sei bereits ein Zugeständnis und der erste Schritt in die Vertreibung. Indem Nuestra Tierra zuhört, beobachtet, Fakten zusammenträgt und sie in einen Zusammenhang bringt, entwickelt der Film einen Ansatz, der formal deshalb so zwingend ist, weil er überblendet, was sonst selten zusammenkommt: Wut und Geduld. Aus diesem Geist entsteht ein Film, der zugänglich genug ist, um ein breiteres Publikum anzusprechen – und kompromisslos genug, um es zwischendurch nicht zu verlieren.
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