Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist – Kritik
Wie ein Bild zum Bild wird: Sabine Herpichs neuer Dokumentarfilm über die Berliner Kunstwerkstatt Mosaik ist ein Film gewordener Tag der offenen Tür, an dem nicht zuletzt eine andere Vision des Kunstbetriebs aufscheint.

Die Buntstifte haben Spuren hinterlassen, als sie sich über den Rand des Blattes hinauswagten. Ihre Spitzen müssen sich, den Kanten zum Trotz, auf den Karton unter dem Papier geschoben haben, über das Klebeband, das beides zusammenhält, bis sie die Staffelei selbst berührten. Farbige Linien erstrecken sich über die Oberfläche des Holzgestells, ihre Verläufe vollzieht der Kamerablick in einer langsamen Bewegung nach, von unten nach oben, keiner skeptischen Musterung ähnlich, eher wie eine neugierige Betrachtung, als wollte er die Buntstiftstriche in der Imagination fortführen, ihnen auf der Spur bleiben.
Schulterblicke

Die Augen stoßen an die Ränder dieses Bildes im Bild, das ein Schild möglicherweise als Kunstwerk ausweist. Erst im Laufe von Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist wird die Aufschrift verständlicher, wenn hinter den einzelnen Wörtern Bedeutungen und Biografien hervortreten, ohne dass sie im Film von Sabine Herpich auserklärt würden. Denn es geht hier nicht um diese eine Zeichnung und diese eine Staffelei, die diese eine Person bekritzelt hat, sondern um die grundsätzliche Frage, wie sich ein Bild machen lässt. Herpich zeigt Künstler*innen mit Behinderung bei der Arbeit und begleitet den Prozess, wie in der Berliner Kunstwerkstatt Mosaik Gemälde bis art objects entstehen. Gemeinsam schauen Regisseurin und Kamera über Schultern, während Hände Stifte anspitzen und Münder über Papier pusten; eine doppelte Bildproduktion also, die sich über das Filmen künstlerischer Arbeitsprozesse vollzieht.

Der Faszination daran, wie ein Bild zum Bild wird, welche Bewegungen absolviert, welche Abbiegungen genommen werden, wenn die Kunst aus dem Schnabel kommt, ging Herpich bereits in Ein Bild von Aleksander Gudalo (2019) nach. Mit dem ehemaligen Kollegen und Maler verabredete sie, dass er immer nur dann an einem Bild werkelt, wenn sie ihn aufnimmt. Entstanden ist so ein Film, dessen Dramaturgie sich aus Gudalos einzelnen Arbeitsschritten ergibt und der deshalb ein eigenwilliges Tempo besitzt, muss er schließlich eine Dauer von 87 Stunden in deutlich weniger Zeit (45 Minuten) spürbar machen. Herpich nutzte Zwischentitel, um Zeitlichkeiten zu markieren, Schriftbilder, die von dem zeugen, was der Schnitt in die Unsichtbarkeit manövriert hat. In Kunst kommt aus dem Schnabel sind solche Markierungen nicht nötig, denn die Arbeitsprozesse der frickelnden Künstler*innen laufen in der Atelier-Atmosphäre nebeneinander ab, das Ausschnitthafte ist unumgänglich.
Einschlüsse, Ausschlüsse, Anschlüsse

Aber auch dieser Film wartet mit einer besonderen Geschwindigkeit auf, die nicht an Effizienz interessiert scheint. Es handelt sich vielmehr um dialogische Situationen, und das nicht nur zwischen Künstler*in und Werk in jenen entschleunigten, geduldigen Momenten des Schulterblicks, die es schon in Ein Bild von Aleksander Gudalo zu bewundern gab. Filmemacherin Herpich setzt sich selbst dazu, in die Szene hinein, unaufdringlich, gleichwohl ausdrücklich, indem sie als Stimme auftritt. Sie ist da und teilt ihre Zeit mit denen, die sie filmt. Sie sieht hin, hört zu, wartet ab, fragt nach, widerspricht gelegentlich, bis sie überzeugt einlenken muss, wünscht ein schönes Wochenende, wenn die Künstler*innen am Freitag die Werkstatt verlassen. Kunst kommt aus dem Schnabel ist ein schöner Film darüber, was es heißt, Bekanntschaften zu machen, und mit jeder Minute demonstriert er durch seinen nüchtern-reduzierten Aufbau, dass es für Begegnungen auf Augenhöhe gar nicht so viel braucht. „Soll ich dir das Fenster öffnen?“, fragt „die Sabine“ gleich zu Beginn. Es wird verneint. Na gut, dann bleibt’s zu.

Ein Film gewordener Tag der offenen Tür, zu dem ich als Zuschauerin eingeladen bin, und doch mehr. Das Fenster am Anfang, das geschlossen bleibt, verweist auf eine Außenwelt abseits des Arbeitsraums. Sie wird in Kunst kommt aus dem Schnabel nicht ins Bild gerückt. Stattdessen bewegt sich Herpich ausschließlich durch die Innenräume des Ateliers, ein Ort, der nach eigenen Regeln funktioniert, an dem die Wände voller Werke hängen und in dem abgesprochen ist, wer wann die Pflanzen gießt (Suzy, aber die hat’s vergessen). Hier sind sie „drinnen“, die Insider, die sonst von der Gesellschaft zu Outsidern gemacht werden: Adolf Beutler, Star der Kunstwerkstatt Mosaik, von dem eine Zeichnung 800 Euro kostet und der kaum spricht, aber manchmal weinen muss; Gabriele Beer, die mit knalligen Farben das Verhältnis von „Tod und Leben“ erkundet, wie sie die Skizze vom Monster-Skelett mit den Spiegelei-Augen nennt; Suzy van Zehlendorf, die sich eine Ausgabe der „Meisterwerke der Weltkunst“ geschnappt hat und ihnen ein Makeover verpasst, indem sie die Vorlagen um Hahnenköpfe ergänzt. Ob Cattelans Hitler-Figur, die Mona Lisa oder Der Schrei von Munch, nichts bleibt von der Künstlerin verschont.

Das Bode-Museum ist Suzys persönliches Hassobjekt. Sie baut es als Miniatur nach, kann seinen Anblick jedoch schon dabei kaum ertragen, weshalb sie „das Ding“ hinter Tüchern verbirgt. Später sollen Dartpfeile darauf geworfen werden, plant Suzy: „Das Ding, das wird zerstört.“ Als sie durch einen Katalog mit den Exponaten blättert, die im Bode-Museum ausgestellt werden, diskutiert sie mit Herpich, wie traurig ja die Skulpturen aussähen. Die müssen befreit werden, klare Sache! Und irgendwie ist es wunderbar sinnbildhaft, dass Suzy sich ausgerechnet diese Institution ausgesucht hat, die sie hässlich findet und zerstören will, eine neobarocke Architektur des Ausschlusses, die performt, was als Kunst anerkannt wird und was nicht. Unweigerlich muss ich bei der Sichtung an das im Juli 2021 eröffnete Humboldt Forum denken. Es wäre interessant zu wissen, was die Künstlerin mit diesem Gebäude anstellen würde.
Die Magie des simplen Strichs

Solche Formen der Kunstkritik und -reflexion liefert Kunst kommt aus dem Schnabel gleich mit, zumal Herpichs unprätentiöser Film dazu anstiftet, über Bedingungen nachzudenken: unter denen Kunst entsteht und sich Handschriften, Stile, Genres herausbilden, unter denen etwas zur „genialen“, „guten“, „bewahrenswerten“ Kunst erklärt wird; unter denen so etwas wie Handwerk und Autor*innenschaft funktioniert, und Kunst von Menschen mit Behinderung immer erstmal als behinderte Kunst gelesen wird. Als Zuschauende machen wir uns ein Bild der verschiedenen Künstler*innen, wohnen ihrem kreativen Schaffen bei, das zusätzlich von Betreuungspersonal sowie der Leiterin Nina Pfannenstiel begleitet wird. Gestalterische Entscheidungen werden besprochen, Lob verteilt, Tränen getrocknet. Im Umgang miteinander präsentiert Herpichs Film die Vision eines Kunstbetriebs, in dem das Werkeln in der Werkstatt nicht Beschäftigung, sondern Lohnarbeit ist, und Kunst stets kollektiv entsteht. Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist feiert die Unterschiedlichkeit der Schnäbel und die Magie, die in dem simplen Strich eines Buntstifts liegen könnte, wenn ihm nicht das Mittagessen in die Quere kommt.
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