Köy – Kritik
VoD: Frauen aus drei Generationen sprechen über ihr Verhältnis zur kurdischen Herkunft, zur politischen Lage in der Türkei und ihr Leben in Berlin. Serpil Turhans Dokumentarfilm ist vom Wunsch erfüllt, ihnen ein freieres Atmen zu ermöglichen.

Köy heißt der neue Film von Serpil Turhan, für den sie drei Kurdinnen unterschiedlicher Generationen über drei Jahre begleitet hat. Köy, das ist im Kurdischen das Dorf, im Berliner Kontext könnte es auch Kiez bedeuten. Diese Übertragungsleistung vollbringt die Mittzwanzigerin Hêvîn einmal, wenn sie über unterschiedliche Welten innerhalb ihrer Stadt sinniert: wie sie sich sofort zu Hause fühlt, wenn sie aus einem dieser polierten Stadtteile wie Charlottenburg oder Steglitz mit der U-Bahn wieder in Kreuzberg einfährt, am Kotti ankommt. „Ist hier ja auch einfach wie so ein Köy.“ So ähnlich wie Hêvîn ihre Fahrt mit der U1 hat zuvor ihre Mutter den Weg mit dem Bus in die kurdischen Gebiete beschrieben. Auch wenn sie Berlin mag, erst dort unten spüre sie, wie ihre Lungen atmen.
Nach Hause, aber nicht zurück

Atmen ist ein zentrales Motiv in Köy, deren Protagonistinnen sich darüber Gedanken machen, an welchem Ort sie freier atmen können und was dem freien Atmen, hier wie dort, im Wege steht, ja möglicherweise auch, wie viele Atemzüge ihnen überhaupt noch bleiben. Die „Neno“, Großmutter von Regisseurin Serpil Turhan, wünscht sich vor allem, nicht pflegebedürftig zu werden. Im Laufe des Films wird sie endlich einen Flug in die Türkei planen, aber ihr Körper plant da längst schon den Strich durch diese Rechnung. In einem schmerzhaften Dialog, in dem die Enkelin/Regisseurin zu einer Art emotionalen Dolmetscherin zwischen Mutter und Tochter wird, erörtert man die Frage, wo die Neno einmal begraben sein möchte.
Auch Saniye aus der mittleren der drei porträtierten Generationen plant eine Reise Richtung Kurdistan. Ihr heutiger Vorname wurde ihr kurz vor der Einschulung eingebläut, von ihrem Vater, der mit der kurdischen Herkunft der Familie lieber hinterm Berg halten wollte. Später hat sie lange ein Café in Schöneberg betrieben, wünscht sich nach vielen Reisen und Auslandsaufenthalten aber nichts so sehr, wie einmal alle Jahreszeiten in ihrem kurdischen Geburtsdorf zu erleben, nicht nur den Sommerurlaub. Doch stets wenn solche Pläne mal konkret wurden, kam bald darauf der nächste Krieg, die nächste Hiobsbotschaft. „Man kann auf die politische Lage in der Türkei keine Rücksicht mehr nehmen“, hat sie daraus geschlossen, fasst im Laufe des Films einen neuen Plan.
Paradoxes Grübeln

Die Neno hat noch Hoffnung auf eine grundsätzliche Veränderung: Wie es weitergeht, sagt sie vor den Wahlen in der Türkei 2018, liege doch in den Händen der Menschen, nicht in „seinen“ – der Name des Präsidenten fällt nicht. „Wenn alle Angst haben, was soll dann geschehen? Dann wird es noch schlimmer.“ Auch Hêvîn hat keine Angst, will sogar als Wahlbeobachterin in die Türkei reisen, obwohl sie dort aufgrund ihres politischen Aktivismus in Berlin auf zahlreichen Listen stehen dürfte. Der Plan liegt deshalb irgendwann auf Eis, und Hêvîn hat mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen, verbietet sich teilweise jeden Spaß, weil sie an der UdK Schauspielerin wird, während in Kurdistan Gleichaltrige zu den Waffen greifen müssen, erinnert sich im Rückblick an „Trauerkrämpfe“ beim Shoppen.
Was über den mal vagen, mal konkreten, mal mehr und mal weniger realisierbaren, immer wieder durchkreuzten Reisewünschen schwebt, ist in Köy also nicht bloß die Zerrissenheit zwischen Heimat und Diaspora oder eine diffuse Suche nach dem eigenen Selbst, sondern auch und vor allem die politische Lage in der Türkei. Die drei Frauen treten nicht in erster Linie als Verkörperung einer kurdischen Kultur oder einer migrantischen Erfahrung in Erscheinung, sondern als politische Subjekte, die gezwungen sind, sich zu Repression, Krieg und Gewalt zu verhalten. Erst um dieses politische Zentrum herum stellen sich Fragen nach Identität, Herkunft und dem Leben in Deutschland, etwa die Frage, ob Saniye sich als Frau im kurdischen Dorf so offensiv zu allem äußern können wird, wie sie es aus Berlin gewohnt ist, eine Frage, mit der sie schnell beim Grübeln über den paradoxen Gedanken alternativer Schicksale angekommen ist: Manchmal wünscht sich Saniye, ein Leben gelebt zu haben, in dem ihre Eltern einst nicht in die Fremde gegangen wären, doch kann sie dies nur wünschen, weil sie es getan haben.
Doppeltes Vertrauen

Serpil Turhan, 1979 in Berlin geboren, ist selbst Teil der kurdischen Diaspora in Berlin, wird von ähnlichen Fragen umgetrieben. Turhan hat in Thomas Arslans Filmen Geschwister (1997) und Der schöne Tag (2001) gespielt, war später Regieassistentin von Rudolf Thome, spielte eine tragende Rolle in dessen Zeitreisen-Trilogie (2003–2006). Dem Regisseur widmete sie 2016 den Dokumentarfilm Rudolf Thome – Überall Blumen. Ihre vorherige Arbeit Dilim dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht (2013), in der es bereits um die eigene Familie ging, wurde kürzlich noch einmal auf der Berlinale in der Reihe Fiktionsbescheinigung aufgeführt.
Turhans neuer Film ist im besten Sinne straight, ein beruhigter, konzentrierter, gerade deshalb anrührender, teilweise aufwühlender Film. Er besteht fast ausschließlich aus Interviews und Alltagsszenen der drei Figuren und fußt dabei auf einem doppelten Vertrauen: der spürbaren Vertrautheit der Gesprächssituationen und dem Vertrauen darauf, dass sich allein darüber im Kopf der Zuschauerin etwas zusammensetzt, eine filmische Erfahrung herstellt. Die dramaturgischen Bögen spannen sich kaum merklich, aber gekonnt: Alle drei Figuren begleitet Köy in Abschiede und Aufbrüche, ein Abschied vom Leben, ohne pflegebedürftig geworden zu sein, ein Abschied vom eigenen Café, ein Abschied vom destruktiven schlechten Gewissen.

Ein Aufbruch nach Kurdistan, aber auch einer in die Schauspielkarriere. Hêvîn weiß noch nicht genau, wie es nach dem Studium weitergeht, aber schon, dass sie nicht die Gorki-Schauspielerin werden will, zu der sie einige Kommiliton*innen schon mal vorsorglich abstempeln. Sie wolle nicht optisch, sondern als Künstlerin irgendwo reinpassen, sagt sie, und führt nebenbei vor Augen, wie ein zu selbstzufriedener postmigrantischer Kulturbetrieb rassistische Fallstricke ebenso festzurren wie auflösen kann. Vielleicht rührt der Sog der eigentlich fremden Heimat mitunter auch vom Wunsch des Untertauchens, der Ahnung, dass es sich trotz aller möglichen neuen Widrigkeiten in der kurdischen Provinz besser atmen lässt als in einer allzu bekannten Schublade.
Der Film steht bis 06.02.2023 in der 3Sat-Mediathek.
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