Kairo 678 – Kritik
Der ägyptische Debütfilm zeigt eindringlich, wie in einer patriarchalischen Gesellschaft sexuelle Belästigungen zum Alltag gehören und wie eine Haarnadel zur Waffe werden kann.

„Frauen sind alle verrückt.“ Den Song muss sich Fayza (Boshra) in einem Taxi anhören, während der Fahrer sie dabei lüstern im Rückspiegel beäugt. Fayza flüchtet. Später wird sie von einer Gruppe von Männern ebenfalls als Verrückte beschimpft, nachdem sie sich im Bus gegen die sexuelle Belästigung eines Mitfahrers mit einer Haarnadel zur Wehr gesetzt hat und von dem aufgebrachten Mob als Täterin statt als Opfer angesehen wird. Wieder flüchtet die junge Muslimin und entkommt doch nicht den alltäglichen verbalen und körperlichen Übergriffen, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlt und auf die sie schließlich nicht mehr anders zu reagieren weiß als mit Gegengewalt.

Taxifahrten sind für Frauen in Kairo im Vergleich zu Busfahrten das kleinere Übel, aber Fayza kann sie sich nicht mehr leisten und muss deshalb zur Arbeit die Linie „Kairo 678“ nehmen, auf engem Raum zusammengedrängt mit Männern, von denen einige mit einer Zitrone in der Hose vortesten, ob eine Frau ihre Annäherungsversuche billigen wird oder nicht. Fayza ist eine von drei Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die in Mohamed Diabs Regiedebüt sexuellen Belästigungen ausgesetzt sind und stellvertretend für 83 Prozent der Ägypterinnen stehen, die laut einer Studie des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte solche schon einmal erfahren mussten. Eine größere Aufmerksamkeit erhielt die in Diabs Heimat vielfach unter den Teppich gekehrte Problematik erst durch die sexuellen Übergriffe auf die südafrikanische Journalistin Lara Logan während ihrer Berichterstattung auf dem Tahir-Platz im Februar 2011.

Diab hat sein Drama vor diesem Vorfall gedreht, die Geschichten seiner drei Protagonistinnen basieren jedoch auf realen Ereignissen und besitzen einen stark exemplarischen Charakter. Die Erzählung von der Call-Center-Mitarbeiterin und ersten weiblichen Stand-up-Comedian Nelly (Nahed El Sebaï), die auf offener Straße von einem Autofahrer begrabscht und mitgeschleift wird und ihn trotz Proteste ihrer Familie vor Gericht bringt, ist an dem Fall der jungen Filmregisseurin Noha Rushdi Saleh angelehnt, die einen Prozess gegen einen Lastwagenfahrer gewann, der sie in den Straßen Kairos belästigt hatte und dafür zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Der öffentliche Prozess und das Urteil holten die in Ägypten lange totgeschwiegene Thematik aus der Tabuzone, sorgten allerdings auch dafür, dass die Klägerin in einer Hetzkampagne unter anderem als Nestbeschmutzerin ihres Landes verunglimpft wurde. Auch Nelly muss in Kairo 678 (Cairo 678) um ihren guten Ruf fürchten und um den ihres Verlobten Omar (Omar El Saeed), der hier weitgehend als emanzipierter Mann fungiert, sich aus Angst, Schande über seine Familie zu bringen, aber gegen einen Prozess stellt.

Die aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Seba (Nelly Karim) entscheidet sich aus dem gleichen Grund gegen eine Anzeige, nachdem sie in einem vollen Fußballstadion von ihrem Ehemann abgedrängt und von mehreren Männern belästigt wird. Ihre Beziehung zerbricht daran, und sie erleidet eine Fehlgeburt. Seba gründet einen Selbstverteidigungskurs für Frauen, in dem sie auf Fayza und Nelly trifft. Ein Kommissar (Bassem Samra) untersucht die „Haarnadel-Vorfälle“ in Kairos Bussen und sorgt für den comic relief. In einer vermutlich gut gemeinten, im Resultat aber eher ärgerlichen und kontraproduktiven Szene agiert er wie ein strenger, aber wohlwollender Schuldirektor, der den drei Frauen ordentlich die Leviten liest und sie dabei wie ungezogene und unselbstständige Mädchen aussehen lässt, die anschließend kleinlaut aus dem Zimmer schleichen und dank der Gnade eines netten Mannes keine Verantwortung für ihr Handeln tragen müssen.

Die verschiedenen Reaktionen der drei Frauen auf ihre Erlebnisse und die weitreichenden beruflichen und privaten Konsequenzen, die daraus folgen, verknüpft der Autor und Regisseur durch eine elliptische Erzählweise mit mehreren Zeitsprüngen, in der sich die Wege der Hauptfiguren und ihrer Angehörigen immer wieder kreuzen und die damit an Filme wie 21 Gramm (21 Grams, 2003) oder L.A. Crash (Crash, 2005) erinnert. Mit Paul Haggis’ Rassismusdrama verbindet Kairo 678 auch sein aufklärerisches Anliegen. Die an Schicksalsschlägen reiche Handlung wirkt mitunter recht überladen und forciert, die Dialoge sind teils überdeutlich und belehrend, und die Charaktere werden insgesamt zu sehr auf männliche oder weibliche Prototypen der ägyptischen Gesellschaft reduziert – mal verschleiert, mal freizügig, mal fortschrittlich, mal traditionell. Dennoch verstehen es Diab und seine durchweg berührenden Hauptdarstellerinnen, Interesse und Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Manche aufgeworfene Woge wird zum versöhnlichen Ende allerdings etwas zu schnell geglättet.

Die bewegliche, häufig unruhige Kamera betont das Gefühl der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, dem die Frauen ausgesetzt sind, in einer Gesellschaft, in der sie von Partner und Familie, Polizei und Justiz nach einer sexuellen Belästigung trotz einiger Fortschritte noch zu wenig Unterstützung erwarten können und in der jede Busfahrt zum Spießrutenlauf werden kann. Ein Gerichtsprozess mag gewonnen werden, aber Fayza steht am Ende wieder auf der Straße und scheint nicht zu wissen, wie sie ohne Bus zur Arbeit kommen soll.
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