Kairat – Kritik

Liebe als Abfahrtsbahnhof.

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Wer so jung ist wie er, den quält der Durst nach Erfahrung. Der will die Kindheit hinter sich bringen. Den Muff der frühen Jahre. Alles, was nach Spielplatz riecht, will er abstreifen, eintauschen gegen eine viel bessere Ansicht von sich selber. Sich sehen, wie er gern wäre: Hartgesotten. Souverän. Über jeden Zweifel erhaben. Vor allem aber: authentisch, so als wäre er bereits wer – jemand, den man für voll nehmen kann, über den andere in der dritten Person sprechen wie über einen Erwachsenen. Aber die ersten Schritte in Freiheit fühlen sich seltsam an: Zaghafte Gehversuche, man wackelt und wankt voller Zuversicht, wie beseelt von dem Wunsch, dazuzugehören, und ist doch innerlich unfertig, so selbstsicher wie ein zitterndes Kind. Noch ist alles zerbrechlich, noch ist man nicht da.

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Auch den jungen Kairat treibt der Erfahrungsdurst aus der kasachischen Provinz in die Großstadt Almaty, der die Hektik des Zufalls ihren ganz eigenen Rhythmus diktiert. Darezhan Omirbayevs Langfilmdebüt Kairat (1992) erzählt einfühlsam, in schlichtem Schwarzweiß und fast ohne Worte vom Gezeitenwechsel des Erwachsenwerdens am Beispiel eines Jungen, der endlich ankommen will und sich doch permanent zwischen den Dingen verliert: zwischen Orten und Menschen, Liebe und Isolation, Traum und Wirklichkeit – nirgendwo ist er so ganz. Er gehört nicht an. Passt zu nichts und nichts passt zu ihm. Wandert umher, bleibt hängen. Herumgereicht wie bei Bresson – keine geschundene Kreatur (Zum Beispiel Balthazar, Au hasard Balthazar, 1966), mehr ein sehnsuchtsvoll Schauender, der mit glühenden Blicken die Weltwiese abgrast wie der Geistliche in dem frühen Meisterwerk Tagebuch eines Landpfarrers (Journal d’un Curé de Campagne, 1951). Undenkbar, dass er kein Entsagender wäre, kein Zugreisender zwischen zwei Städten, der ungerührt aus seiner Koje zusieht, wie seine Freundin Indira kurz mit einem anderen verschwindet.

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Kairats historisches Erbe des episodenhaften, elliptischen Erzählens im Stile eines Bresson oder Antonioni bewirkt vor allen Dingen eine Gleichwertigkeit des Erzählten. Jede Episode fügt sich im Nexus des Alltags gleichberechtigt an die nächste, nichts hebt ein Ereignis über ein anderes hinaus. Das führt freilich zu einer gewissen Willkür bei der Szenenauswahl, die die ohnehin schon karge Plotstruktur durch traumartige, assoziative, mitunter zäh geratene Passagen zu zerfleddern droht. Doch letztlich zwingt Omirbayev den Film durch seinen ausgeprägten Stilwillen und eine bis zur Schlusssequenz konsistente Motivik zusammen und verhindert somit, dass sein lakonisches Handlungsgefüge an den Rändern ausfranst.

Das zentrale Motiv der Verwehrung durchzieht Kairat in seinen blendend-hässlichen Schattierungen, sei es im Bild der ersten Liebe zu Indira, einer Zufallsbekanntschaft und Bahnangestellten, die er im Kino trifft; im Initiationsritus eines Zweikampfs mit dem Anführer einer Jugendgang, die Kairat nicht aufnimmt, sondern drangsaliert; oder im Traumbild des Jungen, der gegen Ende des Films am Greifautomat vergeblich versucht, ein Stofftier zu ergattern. Man kriegt nie, was man will; das kriegen immer die andern. Also Weigerung statt Zuspruch, Andeutung statt Verwirklichung – Omirbayev liebt augenscheinlich nicht so sehr das dem Medium Film eigene ostentative Zeigen wie das Verbergen, Vorenthalten von Taten und Bildern, so als praktizierte er ein Kino im Sinne der antiken Urteilsenthaltung.

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Die Verwehrung der Liebe aber ist bloß ein Symptom einer umfassenden Lebensverwehrung, die hinter Kairats Erfahrungsdrang und jugendlicher Zuversicht wie eine unbequeme Wahrheit irgendwann bitter hervorsticht. Dass der Regisseur seinen Helden zwar die ganze Tragik und Komplexität dieser Lebensphase spüren lässt, sie jedoch immer wieder poetisch zu brechen versteht, mildert das Drama zu einer zeitlos versponnenen Reise, an deren Schlusspunkt vielleicht nur die Erkenntnis steht, dass sie im Grunde nie endet. Übrig bleibt nur die Erinnerung: an die gemeinsamen Wege, die Blicke, die Zurückweisung. Bis zur nächsten Geschichte. Omirbayev schildert die erste Liebe als Abfahrtsbahnhof, in den alle Gleise, die im Kommen und Gehen der Züge und Zugreisenden zunächst von ihm weggeführt haben, mit jeder neuen Liebesgeschichte auch wieder zurückfinden.

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