Juror #2 – Kritik

Juror #2 erzählt von einem befangenen Geschworenen und einem Prozess, in dem jeder nur das sehen will, was er schon zu wissen glaubt. In seinem 40. Film über die Ambivalenzen der Wahhrheitssuche merkt man Clint Eastwood im besten Sinn an, dass er niemandem mehr etwas beweisen muss.

Neben einem Highway in Savannah, Georgia wird eine blutige Leiche entdeckt. Wie die junge Frau getötet wurde, ist zwar unklar, dass es sich bei dem Mörder aber um ihren Freund James Sythe (Gabriel Basso) handelt, davon ist zumindest die Staatsanwältin Faith (Toni Collette) fest überzeugt. Nicht nur ging der Tat ein alkoholgeschwängerter Beziehungsstreit in einer Bar voraus, danach verfolgte der für cholerische Ausbrüche bekannte Angeklagte das Opfer auch noch. Der bevorstehende Mordprozess, in dem eine Geschworenen-Jury urteilen muss, sollte eigentlich nur noch eine Formalie sein.

Clint Eastwood beginnt seinen neuen Film mit einem Bild der Göttin Justitia, deren verbundene Augen symbolisieren, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Um ein gerechtes Urteil zu bekommen, sieben Faith und der Rechtsanwalt Eric (Chris Messina) im Voraus potenzielle Jury-Mitglieder aus, die befangen sein könnten. Doch bereits die Auswahl selbst ist voreingenommen. Eine Frage über häusliche Gewalt wird nur einem schwarzen Kandidaten gestellt, ein anderer kritisch beäugt, weil er gerade von seiner Frau verlassen wurde. Und auch die Rahmenbedingungen sind alles andere als fair: Während Eric lediglich ein überarbeiteter Pflichtverteidiger ist, nutzt die profiliertere und ehrgeizigere Faith den Fall, um ihre anstehende Politikerinnenkarriere anzukurbeln.

Nuancen der Wahrnehmungen

Die Wahrheit besteht in Juror #2 – anders etwa als in Akira Kurosawas vielzitiertem Rashomon – nicht aus komplett gegensätzlichen Sachverhalten, sondern aus unterschiedlichen Nuancen. Zweimal zeigt der Film den Streit des Paares in einer Rückblende, jedoch mit minimalen Differenzen: Erst streckt das Opfer dem Verdächtigen ihre zwei Mittelfinger direkt ins Gesicht, das nächste Mal tut sie es aus weiterer Entfernung. Die Wahrnehmungen weichennur in Schattierungen voneinander ab, die jeweilige persönliche Agenda führt aber zu sehr unterschiedlichen Interpretationen. Dabei dreht sich das behutsam durchkomponierte Drehbuch von Jonathan Abrams – in Anlehnung an Justitia – um das Paradox, dass wir gerade, wenn wir klar zu sehen glauben, in Wahrheit blind sind.

Auch eine schwangere Frau (Zoey Deutch) trägt in der ersten Szene eine Augenbinde, die ihr der liebevolle Ehemann Justin (Nicholas Hoult) abnimmt. „You're perfect“, flüstert sie ihm verliebt zu und als Faith den Regionaljournalisten später in die Mangel nimmt, merkt auch sie an, er wäre ein „perfekter“ Geschworener. Dabei ist der trockene Alkoholiker alles andere als das. Nachdem zum Prozessauftakt detailliert die vermeintliche Mordnacht geschildert wird, dämmert Justin nicht nur, dass er an besagtem Abend in besagter Bar verkehrte, sondern auch, dass das vermeintliche Reh, das er anschließend überfuhr, das Opfer gewesen sein könnte.

Blickverstellende Subjektivität

Immer wieder handeln Eastwoods Filme von brüchigen Figuren, deren Heldenstatus sich als Fremdprojektion erweist. Auch in Juror #2 ist nicht entscheidend, was die Menschen tun, sondern welches Bild sich Andere von ihnen machen. Justin wirkt wie das genaue Gegenteil des Angeklagten James: Hier ein bulliger Arbeitertyp mit ungezügeltem Temperament, dort ein höflicher, wohl artikulierter Familienvater mit schüchternem Lächeln. Jeder im Gerichtssaal hat eine genaue Vorstellung davon, wie Helden und Schurken auszusehen haben.

Der von Schuldgefühlen geplagte Justin versucht nun, bei den anderen Geschworenen Zweifel zu säen. Er möchte zugleich sein Gewissen entlasten und sich aus der Verantwortung stehlen. So wie die Jury-Mitglieder für ein gerechtes Urteil nach Diversitätskriterien gecastet wurden, repräsentieren sie auch unterschiedliche Erfahrungen. Eine junge Frau ist so von dem Thema häusliche Gewalt getriggert, dass sie die näheren Umstände des Falls gar nicht mehr interessieren. Ein anderer ist wegen eines Schicksalsschlags voreingenommen und wieder eine andere will nur schnell ein Urteil haben, damit sie wieder bei ihren Kindern sein kann. Juror #2 zeigt wie bereichernd es sein kann, wenn sich in einer Demokratie jeder mit seiner eigenen Perspektive einbringt, aber auch, wie diese Subjektivität den Blick verstellen kann. Jeder möchte nur das bestätigt sehen, was er schon vorher zu wissen glaubte.

Tiefenentspannter Slowburner

In Eastwoods tiefenentspannter Regie entfalten sich die Geschehnisse so geschmeidig, dass man zunächst gar nicht wahrnimmt, wie einen dieser Slowburner in den Bann zieht. Dabei folgt der Film keiner Argumentationslinie, sondern ist aus den Figuren und ihren Widersprüchlichkeiten heraus entwickelt. In seinem 40. Film merkt man dem mittlerweile 94 Jahre alten Regisseur im besten Sinn an, dass er niemandem mehr etwas beweisen muss. Nichts wirkt hier eitel, ungelenk, bemüht originell oder auf den bloßen Effekt getrimmt. Stattdessen herrscht in der so sorgfältigen wie minimalistischen Inszenierung ein tiefes Vertrauen in die Geschichte und die erstklassigen Schauspieler sowie ein feines Gespür für dramatische Kippmomente. Häufig konfrontiert Eastwood in seinen Filmen falsche Autoritäten und abstrakte Bürokratie mit gelebter Erfahrung – nicht selten repräsentiert durch einen hemdsärmeligen, aber auch emotional vernarbten Haudegen alter Schule. In seinem Klassizismus und seiner handwerklichen Finesse ist Eastwood selbst zum Inbegriff dieser aus Erfahrung gewonnenen Weisheit geworden.

Das offenbart sich unter anderem, wenn der Film sich zunehmend vom psychologischen Drama über eine moralische Zwickmühle in einen Thriller über die Suche nach der Wahrheit und die Grenzen des Rechtsstaats verwandelt. Bald verschiebt sich etwas in Justin: Als in Aussicht steht, dass der Fall nochmal neu aufgerollt wird, geraten seine Gewissensbisse in den Hintergrund. Er ist plötzlich nicht mehr der integre Familienvater, den alle in ihm sehen wollen, sondern spielt diese Rolle nur noch.

Fast unmerklich wandert die Aufmerksamkeit des Films dabei zu Faith, die zwar beruflich von einem Schuldspruch profitieren würde, wegen bohrender Zweifel aber auf eigene Faust zu recherchieren beginnt. Die Frage, die sich dabei aufdrängt: Wie wichtig ist uns Gerechtigkeit noch, wenn wir uns selbst dafür opfern müssen? In Toni Collettes müdem und sorgenvollem Gesicht wird die Schwere dieser Aufgabe greifbar. Juror #2 demontiert das mitunter tatsächlich recht abenteuerliche Geschworenen-System in den USA nicht, sondern arbeitet vielmehr seine Ambivalenz heraus. Es steht und fällt mit dem Menschen. Er ist die Stärke wie auch die Fehlerquelle dieser institutionalisierten Wahrheitssuche. Und weil man wahrer Gerechtigkeit dabei im besten Fall nur nahe kommen kann, muss die Erlösung im Film ausbleiben.

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