Ein einfacher Unfall – Kritik

Der Cannes-Gewinner Ein einfacher Unfall ist der erste Film seit knapp 20 Jahren, den Jafar Panahi in Freiheit drehen konnte. In Form eines Thrillers verhandelt der iranische Regisseur Fragen um Rache und Vergebung – und blickt in eine Zukunft nach dem möglichen Sturz des Regimes.

Das Bewegendste an diesem Film ist eine Leerstelle: Jafar Panahi bleibt über die gesamte Spielzeit unsichtbar, weil er diesmal nur hinter der Kamera agiert. Diesen Luxus hatte der Regisseur in seinen letzten fünf Langfilmen nicht, da trat er stets selbst als Protagonist und Hauptdarsteller auf, weil das für ihn die einzige Möglichkeit war, trotz Arbeitsverbot und Haft oder Hausarrest weiterhin Filme zu drehen – Miniaturen in der eigenen Wohnung, einem Taxi oder einem Ferienhaus.

Ein einfacher Unfall (Yek tasadef sadeh) ist nun der erste Film seit Offside (2006), den Panahi in Freiheit realisieren konnte, zwar erneut ohne Drehgenehmigung, aber immerhin draußen anstatt in Verstecken. So ist der Film auch das Dokument einer wiedergewonnenen Selbstbestimmtheit nach langen Jahren der Gefangenschaft, die Panahi teils daheim, teils im berüchtigten Evin-Gefängnis absolvierte, in dem viele KünstlerInnen und DissidentInnen inhaftiert sind (und das trotz dieser Vielzahl von Regime-GegnerInnen unter den Insassen im Juni 2025 von Israel massiv bombardiert wurde).

Rache oder Vergebung?

Ein einfacher Unfall spielt über längere Zeit im Auto, das in vielen iranischen Filmen zum Symbol für Unabhängigkeit und Freiheit wird. Bereits nach wenigen Momenten ist auch der Film selbst im fünften Gang: Mitten in der Nacht überfährt Eghbal einen Hund auf der Landstraße und sucht gemeinsam mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau die nächste Werkstatt auf, um den Wagen nach dem Unfall reparieren zu lassen. Dort meint der Mechaniker Vahid (Vahid Mobasseri), in Eghbal jenen Gefängniswärter wiederzuerkennen, der ihn einst im Namen des Regimes gefoltert hat. Emotional aufgewühlt schlägt er Eghbal kurz darauf bewusstlos, transportiert ihn per Van in die Wüste und schaufelt ihm ein Grab – nur um dann im letzten Moment (durchaus begründete) Zweifel zu bekommen. Irrt er sich vielleicht doch und ist gerade dabei, einen unschuldigen Familienvater lebendig zu begraben?

Also ruft er einen Bekannten aus Gefängnistagen an, um eine Zweitmeinung einzuholen. Durch allerlei kuriose Verwicklungen kommen bald noch mehrere weitere Meinungen hinzu und letztlich muss eine fünfköpfige Gruppe aus Regimeopfern drei entscheidende Fragen beantworten: Ist Eghbal wirklich derjenige, der sich an ihnen vergangen hat? Falls ja, sollen sie dann ihrem Racheinstinkt folgen oder nicht doch dem Täter vergeben, um den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen? Und falls Eghbal unschuldig ist, können sie ihn überhaupt noch laufen lassen, nachdem er sie gesehen und ihre Stimmen gehört hat?

Mit Galgenhumor gegen die Verzweiflung

Aus diesem Plot entspinnt sich ein packender Thriller, der erstaunlich stark von Humor durchzogen ist. Ein echtes Highlight ist dabei eine Szene, in der die fünf Autoinsassen versuchen müssen, zwei Security Guards wieder loszuwerden, die Vahids Van verdächtig finden und inspizieren wollen. Ein Nebenstrang rund um einen Krankenhausbesuch übertreibt es mit der Absurdität vielleicht etwas, wenn die ehemaligen Häftlinge ihren Racheversuch stundenlang unterbrechen und damit Freiheit und Leben riskieren. Aber spätestens, wenn die Fünf nacheinander schildern, welchen körperlichen und psychologischen Foltermethoden sie während ihrer Haft ausgesetzt waren, vergeht einem das Lachen wieder. Diese Kopfkino erzeugenden Beschreibungen gehören zu den eindrücklichsten Momenten des gesamten Films, gerade weil Panahi sie nicht per Flashback bebildert, sondern der Fantasie der ZuschauerInnen überlässt.

Fragen an die Zukunft

Panahis Film spielt im Jetzt, aber im Grunde geht es ihm um Fragen, die die Zukunft betreffen: Wie soll es mit der iranischen Gesellschaft weitergehen, wenn das theokratische Regime irgendwann fällt? Lassen sich die bisherigen Opfer von Rache leiten und werden dadurch selbst zu Tätern – oder wird es ihnen möglich sein, den Schuldigen zu vergeben? Und wäre eine derartige Nachsicht ohne Bestrafung gerecht? Alle Figuren in It Ein einfacher Unfall beantworten diese Fragen unterschiedlich und an ihren Streitigkeiten wird erkennbar, wie auch die Solidarität zwischen Unterdrückten brüchig werden kann.

Vielleicht ist das iranische Volk der Beantwortung all dieser Fragen inzwischen einen Schritt nähergekommen: Das geschwächte Regime hat Panahi nicht an der Reise zum Filmfestival von Cannes gehindert, wo er prompt die Goldene Palme gewann. Diese Nicht-Intervention überrascht nach all den Jahren, in denen iranische RegisseurInnen mit Ausreiseverboten belegt  wurden – zumal Panahi ohne Drehgenehmigung gearbeitet hat, mehrere Schauspielerinnen unverschleiert zeigt und auch inhaltlich das System viel direkter angreift als in vorherigen Filmen.

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