Hors Satan – Kritik
Bruno Dumont schafft in seinem neuesten Werk eine radikale Synthese seines Kinos.

Namen lassen sich leicht vergessen: Nadine Nortier oder Carlo Battisti zum Beispiel. Dabei sind die Gesichter hinter diesen Namen längst Teil der Filmgeschichte: als Gesicht von Robert Bressons Mouchette, von Vittorio de Sicas Umberto D. Für die italienischen Neorealisten war der Rückgriff auf so genannte Laiendarsteller Teil ihrer Vorstellung eines Kinos, das näher am wahren Leben der Nachkriegsjahre sein sollte, Bressons Darsteller sollten nicht schauspielern, sondern einfach „sein“. Der bereits zweifach mit dem Großen Preis der Jury von Cannes ausgezeichnete Bruno Dumont ist nach zwei Ausnahmen (Twentynine Palms, 2003, und zum Teil auch in Flandres, 2006) mit Hadewijch (2009) und jetzt mit Hors Satan wieder auf diese Praxis zurückgekommen. Auch in seinem Kino funktioniert viel über Gesichter, doch geht es Dumont dabei gerade nicht um Authentizität, sondern um den Versuch, die Realität zu transzendieren.

Dumonts Filme sind Rätsel und diese Rätsel spiegeln sich in den Gesichtern ihrer Protagonisten wider. Das Gesicht des Polizisten aus L’humanité (1999), so gefangen zwischen Abscheu und Begehren wie das der jungen Céline in Hadewijch zwischen Neugier und Gleichgültigkeit. Das Rätsel von Hors Satan ist das Rätsel im Gesicht von David Dewaele – ein markantes Gesicht, durchaus attraktiv, aber doch kalt und verstörend. Dewaele, der schon in Hadewijch eine Nebenrolle hatte, spielt einen Fremden, der sich in einer kargen Landschaft an der französischen Atlantikküste angesiedelt hat – wie immer grandios gefilmt von Dumonts Kameramann Yves Cape. Der namenlose Mann scheint einzig ein junges Nachbarsmädchen (Alexandra Lemâtre) an sich heranzulassen. Er bezieht sie in seine religiösen Rituale ein, schon nach den ersten stillen Minuten des Films tötet er für sie. Im Gegenzug versorgt sie ihn mit Broten wie einen herumstreunenden Hund. Doch der Fremde ist nicht nur Racheengel und Bestie: Später wird er ein Kind von sonderbaren Krämpfen heilen. Hinter dem menschlichen Gesicht von David Dewaele verbirgt sich etwas wahrhaft Unmenschliches.

Mehr zu sagen wäre unangebracht, denn die Stärke von Dumonts Filmen ist eben jene Präsenz des Unerklärlichen, für das es keine Worte gibt, oder für das man jeweils eigene (er)finden muss. Die „Spiritualität“ der Werke sollte dabei nicht mit herkömmlichen Vorstellungen von Gottesfragen verwechselt, sondern im Wortsinne verstanden werden: als Anregung des Geistes, als Aufruf, den Film nicht nur mit den Augen sehen und dem Verstand erfassen zu wollen, sondern ihn zu fühlen und zu erfahren. In diesem Versuch – und auch in seinem Gebrauch von Naturbildern – ist Dumonts Kino durchaus verwandt mit dem von Terrence Malick (Tree of Life, 2011), doch der Franzose geht intuitiver vor, ist nicht auf Schönheit und Kohärenz aus, sondern auf Irritation und Ambivalenz. Hors Satan ist eine Art Tree of Death, die karge Landschaft, die knappen Dialoge und der nihilistische Grundton evozieren eher das Ende als den Anfang der Welt. Man muss Dumonts Faszination für die existenziellen Fragen nicht teilen, aber es ist ungeheuer anregend, wie er sich diesen Fragen nähert – vor allem, weil er es beim Fragen belässt.

„Der Zuschauer macht den Film, nicht der Regisseur“ hat Dumont einmal gesagt, und das trifft sein Werk wie kein zweiter Satz. Dumont verrät uns nicht, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, welche Ziele der Fremde verfolgt, und warum sich das Mädchen in seinen Bann ziehen lässt. Er zeigt keine Figuren, sondern Gesichter, keine Handlung, sondern Ereignisse, ist nicht auf Erkenntnis aus, sondern auf Eindrücke. Diese Gesichter sind fast immer die von Außenseitern, doch sind es Außenseiter, die auf eigentümliche Weise souveräner erscheinen als ihre Umgebung, die nicht von ihrer Umwelt ausgeschlossen werden, sondern eine in sich geschlossene Umwelt bedrohen. Die sich hingebende Gläubige Céline in Hadewijch, der apathische Polizist in L’humanité, und jetzt der Fremde in Hors Satan: Held und Monster zugleich, kaltblütiger Mörder und Wunderheiler, Gott und Teufel in einer Landschaft, die sowohl Hölle als auch Garten Eden ist. In dieser Spannung entsteht das Unheimliche, das nicht benannt werden kann, nicht einmal wirklich interpretiert, denn Dumont umschifft gekonnt jede plumpe Symbolik, die eine bestimmte Lesart bevorzugen würde.

Doch obwohl oder gerade weil Dumont auf Antworten verzichtet, fordert sein Werk eine Reaktion heraus. Da ist immer etwas mehr als nur das, was die Kamera einfängt. Das mystische Potenzial des Kinos kommt vielleicht nirgends im aktuellen Film so radikal zum Ausdruck – ja zum Ausbruch – wie bei Dumont. Sein Vertrauen auf nicht professionelle Darsteller ist wichtiger Teil dieser Vision. Der Bruch mit dem Vertrauten, der ein neues Gesicht darstellt, verweigert uns die Sicherheit, nur im Kino zu sitzen. Das neue Gesicht trägt als solches noch ein Geheimnis in sich und bewahrt das Unheimliche des Films in einem einzigen Blick. Dumonts Filme zwingen zum Hinsehen, weil wir selbst angesehen werden, weil ihre Rätsel nicht aufgelöst, sondern ausgehalten werden, und dabei das Gefühl beschwören, dass hier etwas wahrhaft Unerklärliches vor sich geht.
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