History of Fear – Kritik
Panorama der Irritationen: Benjamín Naishtat stört den Alltag argentinischer Vorstadtsiedlungen.
Ein Fast-Food-Counter im Kino. Ein paar Kunden in der Schlange, draußen ist es bereits dunkel, auf dem Heimweg noch ein Burger. Normalität in CinemaScope. Weil sich aus dieser Konstellation erst ganz langsam ein Element herauslöst, das mit der Normalität bricht, ist der Effekt dieses Bruchs zwar kein Schock, seine Wirkung jedoch nicht minder heftig. Ein junger Mann dehnt seinen Rücken nach hinten, windet sich um sich selbst, scheint zu einem Handstand anzusetzen, verharrt schließlich in der Bewegung wie ein Tier auf der Lauer, auf seinem Gesicht ein durchdringender Blick. Vielleicht Drogen, vielleicht aber auch mehr. Angst. Die Kunden weichen erschrocken zurück, ein Wachmann nähert sich dem Typen so vorsichtig, als handle es sich um einen bewaffneten Kriminellen. Schließlich packt er das nur noch physiognomisch als Menschen erkennbare Wesen von hinten, eine helfende Hand hält die Beine fest. History of Fear ist nicht nur ein unvorhersehbarer Film, er geht dem Schrecken der Unvorhersehbarkeit auf den Grund.
Prekäre Balance

Das Tier ist gebändigt, doch das Tier-Werden an der Essensausgabe ist nur eine von unzähligen Störungen jener Ordnung, die Benjamín Naishtat in seinem Debütfilm porträtiert; einer Ordnung, deren Geografie wir in der Eingangsszene noch aus der sicheren Distanz eines Helikopters bei helllichtem Tag übersehen können, die am Ende aber in vollständiger Dunkelheit aufgeht, weil die zentrale Lichtanlage der gated community ausfällt. Von den kleinen affektiven Veränderungen bis zum großen Blackout – die im Filmtitel beschworene Angst ist keine vor großen Ereignissen oder Schicksalsschlägen, sie hat kein Objekt, fürchtet eher die kleinen Irritationen als den konkreten Schrecken. History of Fear ist eine im Tempo gemächliche und von einem etwas offensichtlich unheilverkündenden Sound Design begleitete Anordnung äußerst heterogener Sequenzen, die formal statisch eingefangen sind, inhaltlich aber sich stets zwischen Kontrolle und Kontrollverlust bewegen – und die vor allem deshalb faszinieren, weil Naishtat diese prekäre Balance in allen Variationen durchspielt, vom Meteoriteneinschlag auf dem TV-Bildschirm im Hintergrund zum plötzlich verlagerten Emotionswechsel auf einem Gesicht im Verhör-Close-up.
Doppelte Gegenbewegung

Man kennt sie zwar gut, diese Form mysteriösen Einbrechens des Unerklärlichen in die Normalität, diese Beschwörung der unheimlichen Präsenz im Jenseits des Bildrahmens. Doch Naishtat findet eine eigene Stimme auch deshalb, weil er gleich zwei filmische Traditionen beschwört, dabei aber nicht bloß reproduziert, sondern selbst irritiert. Zum einen vermeidet er die noch in der Helikoptersequenz angelegte bloße Inszenierung sozialer Gegensätze, die Illustration der berühmten Schere, wie sie gerade am Beispiel der Reichenghettos und der oft direkt anliegenden Slums so häufig zugespitzt wird. History of Fear steht eher in der Tradition einer filmischen Ideologiekritik, die zwar Dienstpersonal, aber keine visualisierten sozialen Gegensätze braucht, weil sich die Mentalitäten der suburbanen Quasi-Aristokratie schon genügend selbst widersprechen. Doch auch darin geht Naishtats Film nicht auf, weil er seinen Bewohnern das Privileg verweigert, Agenten der eigenen Dekonstruktion zu werden. Die in History of Fear porträtierte soziale Ordnung scheint nicht zu brechen, wenn die Gegensätze zu groß oder die Widersprüche zu offensichtlich werden, sondern wenn sich die Irritationen vervielfältigen, das Leben aufbegehrt.
Revolte ohne Subjekt

Und dieses Leben, das sind eben keine verzweifelten Individuen aus den benachbarten Slums. Es sind Tiere, Tiergewordene, Maschinen, Natur, kindliche Beleidigungen, Geräusche und Musik, schließlich ein nackter Mann und ein starres Gesicht ohne interpretierbare Mimik, die vom drohenden Untergang zeugen. Der kommende Aufstand ist kein Sturm auf die Bastille, sondern kleine Unvorhersehbarkeiten, das revolutionäre Subjekt kein darbendes Volk, sondern eine Verkettung subjektivitätsloser Körper. Hunde beißen in den bürgerlichen Arsch, ein nackter Mann stoppt das Mittelklasseauto, ein fremdes Gesicht an der Video-Sprechanlage, der Fahrstuhl bleibt stecken, die Alarmanlage geht grundlos an, schließlich Schlammbomben aus dem Nichts und Feuerwerke in weiter Ferne. Und auch Pola (Jonathan Da Rosa), wenn man so will, Protagonist von History of Fear und noch am ehesten Gegenprinzip zum Vorstadtalltag, das menschlichste Rätsel des Films, ist Unheilquelle ohne Individualität, ein großer Schweiger, der seine Gedanken nicht preisgibt.
Störung der Störungen

Dem Film wird manchmal zum Verhängnis, dass die Atmosphäre der Unvorhersehbarkeit einhergeht mit einer Unentschlossenheit im Abstraktionsgrad – ganz als schiene Naishtat sich nicht sicher zu sein, wie viel Unheimliches er seinem Publikum zumuten will, als fürchtete er schließlich selbst, dass die doch recht gnadenlose (manchmal durchaus frustrierende) Nichtfassbarkeit seines Films nicht sein größtes Kapital, sondern eine potenzielle Gefahr für sein Erleben sein könnte. Das ist deshalb schade, weil Naishtats Panorama der Irritationen eine Radikalisierung durchaus verdient hätte. In einer längeren Sequenz am Reichenghetto-Dinnertable schlägt der junge Camilo (Francisco Lumerman) ein Spiel vor, das schlicht darin besteht, verbal auszudrücken, was man selbst gerne wäre und was man gern hätte – ein Vorschlag, der zu allgemeinem Zögern und Verunsicherung führt. Wo Naishtat seine Gesellschaft lange Zeit wohltuend unpsychologisch porträtiert und stört, ihr mit den Mitteln des Mysteryfilms den Krieg erklärt, behauptet er schließlich doch ihre seelische Leere und buchstabiert den ideologiekritischen Gehalt seines Projekts aus. Die produktive und störrische Ambivalenz der Stimmung kippt in diesen Szenen in eine Ambivalenz der Haltung, die nun selbst wieder der Atmosphäre reinen Unbehagens in die Quere kommt. Die einzige Störung in diesem Film, die nicht fasziniert, sondern tatsächlich: stört.
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