Here – Kritik

Bas Devos braucht nur eine Suppe, um einen Film zusammenzuhalten. Über Here und seinen geerdeten Animismus – und ein Plädoyer für einen zu wenig bekannten Filmemacher.

Der Blick nach oben in Richtung Großbaustelle, der Blick nach unten in Richtung Moos. Der Bauarbeiter sieht sich in der Nacht vor seiner Abreise in den Heimaturlaub nach Rumänien noch einmal den eigenen Arbeitsplatz an, die Bryologin untersucht unterm Mikroskop ihre neuesten Proben. Die entsprechenden Kinobilder – die Häuserfassade bei Nacht, die Zellen in der grellen Vergrößerung – gehören beide in diesen Film, Here von Bas Devos, und dass ihre Verbindung nicht als Setzung, sondern vollkommen selbstverständlich erscheint, ist das Wunder dieses Films.

Moment, nochmal kurz zurück, die was? Ja, das gibt es, die Bryologie, die Wissenschaft von den Moosen; auch wenn mein Schreibprogramm sich stur schaltet, der von mir arglos dahingetippten „Briologin“ kein „y“ schenken, sondern lieber ein „r“ klauen will, um sie ihrer eigentlichen Expertise zu berauben, sagt Shuxiu (Liyo Gong) doch genau das, als sie da im Moos kniet und dem rumänischen Bauarbeiter Stefan (Stefan Gota) ihr Metier erklärt: „I’m a bryologist“ (im Englischen, immerhin, darf das Wort ununterkringelt bleiben), so steht es da in den Untertiteln, und auch wenn Stefan eigentlich gerade zur Werkstatt gehen will, sein Auto abholen, ist es vielleicht dann um ihn geschehen, denn er kniet einen Schnitt später selbst im Moos und beschreibt der Expertin, was er da vor der Lupe zu haben glaubt.

Ein Regisseur unterm Radar

Der belgische Regisseur Bas Devos läuft irgendwie noch immer etwas unter dem Radar, wie in seinen Filmen scheint es da nicht ganz mit rechten Dingen zuzugehen, es müsste doch mal langsam Retrospektiven und Sammelbände regnen. Man ist mit dem Prädikat „schön fotografiert“ ja manchmal etwas schnell bei der Hand, aber bei kaum einem Filmemacher denke ich an diesen Ausdruck mehr als bei ihm. Meine Erinnerung an seine Filme – Violet habe ich wohl 2014 im Generation-Programm der Berlinale gesehen, vor allem aber habe ich Ghost Tropic (2019) in Erinnerung, der in der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes lief – gleicht weniger der Erinnerung an einen Film als der an eine Fotoausstellung: urbane, häufig nächtliche Bilder, mit Menschen drin, die zwar wesentlich, aber nie die Hauptsache sind, immer mit Bezug zu ihrem Raum bleiben, wie bei Hopper, der Raum selbst immer irgendwie abstrahiert, aber niemals gänzlich abstrakt, immer Teil einer sehr konkreten, sehr realen Welt.

In dieser konkreten Welt wird stets gearbeitet, das Brüssel von Bas Devos ist ganz selbstverständlich proletarisch und migrantisch, ohne dass man deshalb gleich sozialrealistisch werden muss. Die Leute haben meist mehr als einen Job: Stefan sehen wir, nachdem er sich von den Kollegen in den Urlaub verabschiedet hat, noch nachts an einer Hotelrezeption, Shuxiu hilft ihrer Mutter nach Bryologie-Feierabend im China-Restaurant. Dort kommt irgendwann auch ein Essenslieferant an, hält kurz sein Smartphone hin, verschwindet wieder, Shuxiu sagt zu Stefan, den sie nicht kennt, dass ihr diese Lieferant*innen leidtun, draußen regnet es in Strömen, in Brüssel und in Berlin, und ich frage mich, ob dieser völlig alltäglich gewordene Anblick kulinarisch beladener Fahrradkuriere überhaupt schon mal Kino geworden ist außer bei Bas Devos?

Dinge ohne Namen

Die Geschichte, die angeteasert wird – Stefan soll in Rumänien einen Freund besuchen, der im Gefängnis gelandet ist – bleibt ein Teaser, Here bleibt hier, wird Brüssel nicht verlassen, weil Migration nicht einfach Bewegung ist, sondern überall gebremst wird und sich verortet. Überhaupt gibt es bei Devos natürlich Figuren, denen etwas geschieht, die handeln und Entscheidungen treffen, aber ihre Handlungen sind nicht Motor des Films, schmieren keine Kausalketten, sind nicht Motivation für Kamera und Montage, sondern einfach Teil jenes Weltausschnitts, den wir begutachten dürfen. Devos’ Kino ist nicht zuletzt, weil es so völlig in sich ruht und dabei jeden angestrengten Kunstwillen weit auf Distanz hält, dem eines Apichatpong Weerasethakul nicht unähnlich, nur ist der Animismus urbaner, geerdeter, steckt eben wirklich zwischen Moos und Baustelle, sucht Sinn in keinem spirituellen Überbau, sondern in Verhältnissen, Maßstäben, Formen und Figurationen.

Zusammengehalten wird Here am ehesten noch durch Suppe: Stefan will den Kühlschrank noch leer kriegen, bevor er fährt, verarbeitet die Reste zu einer Gemüsesuppe, die er fortan mit sich herumschleppt und allen andient: seinem Freund von der Hotelrezeption, dem Landsmann-Mechaniker, der sein Auto repariert, und schließlich auch, großer augenzwinkernder Schlussmoment einer angedeuteten Romanze, Shuxiu. Die lacht, erinnert sich aber nicht an den Namen ihres Gönners, und wir erinnern uns in diesem Moment, das stellt Here sicher, dass sie ja schon neulich einmal aufwachte und alle Dinge um sie herum wahrnahm, nur die zugehörigen Wörter waren ihr abhandengekommen.

Flüchtige Begegnung als Fluchtpunkt

So denkt sie vielleicht nicht „Stefan“, aber an Stefan: Denn die Begegnung zweier Menschen, die zunächst getrennt voneinander jenes Bild bewohnen, das sie irgendwann doch teilen dürfen, ist schon Fluchtpunkt des Films. Eine flüchtige Begegnung im China-Restaurant, eine nachhaltigere im Wald, übers Moos gebeugt, dann stapfen die beiden durch die Erde, bleiben irgendwann auf einer Anhöhe stehen, und Stefan erzählt Shuxiu, was ihm sein Hotelrezeptionsfreund am Anfang des Films erzählt hatte: dass hier an diesem Ort einst die erste Eisenbahn Europas in Betrieb genommen wurde, oder so etwas in der Art.

Stefan fügt nicht hinzu, dass ihm das kürzlich ein Freund erzählt hat, und warum auch? Es ist doch ohnehin klar, dass alles irgendwo herkommt und irgendwo hingeht, dass alles, was ist, ein Film etwa, weder Ursprung noch Abschluss, sondern, wie Brüssel, ein Knotenpunkt ist, zwischen Großbaustelle und Mikroskop-Moos, zwischen Rumänien und China, zwischen ein paar Zellen und fertigen Menschen, alles eine große Suppe voller Dinge ohne Namen.

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