Hale County, Tag für Tag – Kritik

Im Lichtkegel der Repräsentation. Mit seinem oscarnominierten Porträt einer Community im Black Belt Alabamas regt RaMell Ross nicht zuletzt an, über das Begehren des Kinos nach der Darstellung des An-sich nachzudenken.

Endlich Abstraktion: Der viel gescholtenen Repräsentationspolitik scheint der Übergriff aufs Bewegtbild dort erschwert, wo sich Plot, Figuren und Konflikt aus den Bildern kaum mehr lesen lassen. In RaMell Ross’ Hale County This Morning, This Evening aber strömt das Politische ausgerechnet dann in die Bilder, wenn diese fast nur noch aus Licht und Farben bestehen. Nur das Heck einen Polizeiwagens sehen wir am linken Bildrand, der Rest ist dunkler Wald in einer Winternacht, eingetaucht in das nervöse Blau der Sirene, das die Bäume staatlich einnebelt. Nahtlos geht dieses Farbenspiel nach einer kurzen Weile über in das einer Discokugel, die einen Innenraum erotisch in sich wechselnde Farben taucht. Auch hier sind Dinge nur im Anschnitt zu sehen, Fragmente von Silhouetten auf einer Party.

Figuren am Straßenrand

Zwei körperlose Einstellungen, die den Denkrahmen dieses Films aufziehen, Farben, die sich ihren Weg durch die Gefilde seiner Politik bahnen. Die Repräsentation schwarzen Lebens anno 2019, gefangen zwischen zwei blauen Lichtkegeln, der Sirene und der Discokugel. Im anschließenden Publikumsgespräch an das Screening von Hale County in der Berliner Volksbühne erklärt Ross, dass die Assoziationen des schwarzen Amerika mit Polizeigewalt, mit den Tötungen der letzten Jahre und der #BlackLivesMatter-Bewegung ja ohnehin da seien, „the only thing we know to be true“, dass er diese Assoziation deshalb nicht tiefer in irgendein Bewusstsein pressen wollte, lieber andere Assoziationen schaffen, neue Wege jenseits des Erwartbaren gehen. Nur einmal noch ist da im Rückspiegel ein Cop zu sehen, der sich bei Nacht zu einem Fahrersitz beugt, dann ist wieder Tag, dann beginnt eine neue Einstellung.

Hale County This Morning, This Evening ist das Porträt einer Community, aber wie das Auto, aus dem eine längere Sequenz gefilmt ist, fährt dieser Film die Hauptstraße der Kleinstadt im Black Belt von Alabama entlang, während ihre Bevölkerung am Straßenrand stehen bleibt. Diese Leute stehen dort am Rand, nicht weil sie marginalisiert sind, sondern weil sie autonom bleiben, sich von einem Film nicht ins Zentrum pressen lassen. Und doch gibt es so etwas wie Protagonisten: Die beiden Basketballer Daniel und Quincy, sie reden manchmal in die Kamera, sie üben ihre Würfe, und das befriedigende Swoosh des Korberfolgs wird, durch Ross’ fern von Immersionswahn angesiedeltem Gespür für die Dauer einer Einstellung, fast zu einer meditativen Befriedigung. Bis dann doch mal was am Ring abprallt. Der Donner des auf den Hallenboden aufprallenden Balls beim Dribbling sowie das begleitende Trainingsgequatsche werden die Tonspur fortan immer wieder heimsuchen, noch wenn die Kamera über die Baumwollfelder fährt, die Erinnerung an die Unfreiheit mit dem Versprechen der Befreiung verzweifelt zu übertönen versuchend.

Hoffnungslose Performance von Hoffnung

Die Dialektik aus Eingesperrtsein und Hoffnung, kaum blockierbarer modus operandi eines jeden Films über einen Ort wie Hale County, wird hier aber nicht auserzählt, um zu erklären, oder affektiv nähergebracht, um zu rühren. Hale County weiß um all das, weiß um die übliche filmische Vermittlung all dessen, inszeniert all das aber lieber im einzelnen Bild, als es dem Ganzen nochmals als Aussage überzustülpen. Da rennt Quincys kleiner Sohn freudig durch die Wohnung, immer von einem Zimmer ins andere, immer hin und her, unermüdlich, und die Kamera folgt ihm mit einer absurden Geduld, und der Kleine wird dieser hoffnungslosen Performance von Hoffnung einfach nicht müde, und Ross wird später erzählen, in einem Sundance-Q&A hätte man sich besorgt nach der geistigen Behinderung eines Kleinkinds erkundigt, das doch eigentlich nur ziemlich viel Energie hat. Das sucht Hale County zu erreichen: nicht den einen Effekt zu erzielen, sondern Zuschauerschaften auf ihre eigenen Erwartungen zurückzuwerfen, zu konfrontieren mit dem, was sie sehen und zu sehen glauben.

Keine Untertitel!

Dabei geht es Ross nicht schlicht um Schwarz und Weiß. „They’re trapped and I’m fluid“, beschreibt er das Verhältnis zwischen dem schwarzen Kulturschaffenden und den von ihm Porträtierten, berührt damit auch die alten Fragen des ethnografischen Blicks und die Ethik des Dokumentarfilms. Vor dem Screening kündigt Ross an, dass es keine Untertitel gibt, dass manche der Figuren schwer zu verstehen sein werden, aber dass er sie keiner notdürftigen Übersetzung aussetzen wollte. Man kann das für einen prätentiösen Ansatz erhalten, für eine Fetischisierung der Fremdheit, die sich an die Stelle von deren vermeintlich notwendiger Vermittlung setzt. Aber diese Absage an die uns gewohnte Vermittlungsarbeit ist eben durchaus Kern eines Films, der mit herrschenden Bildpolitiken ebenso brechen will wie mit den Begriffen, mit denen das Verhältnis zwischen Zuschauer und Figur sonst gerne beschrieben wird: Identifikation, Vermenschlichung oder die berühmte Empathie, das wörtliche Mit-Leid, das, wie es Saidiya Hartman einmal formuliert hat, nicht den Raum des Anderen erweitert, sondern nur das Selbst an seine Stelle setzt. Hale County This Morning, This Evening ist auch der Versuch, uns nicht zum Zeugen zu machen, diesen einen Platz eben nicht bereitzustellen, sodass man sich immer wieder durch chaotische Stuhlreihen wühlen muss, um es sich kurz mal bequem machen zu können, bevor man wieder weggeschubst wird.

Kino und das Soziale

Ross ist also kein intuitiver oder pragmatischer Filmemacher, er will mit seiner Bildproduktion bewusst auch in theoretische Debatten intervenieren. Für den Beale-Street-Schwerpunkt der britischen Zeitschrift Little White Lies hat er eine stichpunktartige „Theory of Black Aesthetics“ entworfen, sein Hintergrund als Fotograf lässt ihn im Volksbühnen-Gespräch über die Diktatur der Narration poltern, die dem Film immer wieder das Fotografische austreibt. Und dann ist Hale County This Morning, This Evening auch durchzogen, vielleicht gar strukturiert, von in Zwischentiteln auftauchenden Fragen, die nochmal andere Fluchtlinien ziehen: „What is the orbit of our dreaming?“ „How do we not frame someone?“ „What happens when all the cotton is picked?“ Sein Projekt beschreibt Ross am Ende des Gesprächs damit, „arthouse ideas“ zu nehmen und sie im Sozialen einzubetten. Wenn man sich an den Film erinnert, ahnt man, dass er mit Arthouse nicht das von cinephiler Seite gern gescholtene Passt-schon-Kino meint, sondern eher den ambitionierten Teil von Sundance und den internationalen Autorenfilm.

Denn es ist wohl kein Zufall, dass einige der Bilder – der Junge etwa, der sich im T-Shirt gegen den Wind stellt, während sich im Hintergrund die Gewitterwolken zusammenziehen – an die Malick’sche Transzendenzsuche erinnern. Die Selbstverständlichkeit, mit der europäisch-amerikanische Kultur und Subjektivität für das Ganze stehen können, macht schließlich seit jeher einen zentralen Fluchtpunkt schwarzer Theorieproduktion aus. Wenn Ross also die Ästhetik des Erhabenen zitiert und sich an ihr reibt, sie ins Soziale einbettet, wenn diese Bilder qua unseres Wissens um die Welt, aus der sie stammen, deutlich machen, dass Leben-an-sich und sozialer Kontext sich hier nicht voneinander trennen lassen, geht der Film auch der Schimäre der Kontextlosigkeit auf den Grund, die die Gesten mancher der cineastischen Großklotze heimsucht. Vom „white default“ spricht Ross manchmal, und das ist vielleicht ein schönerer Begriff als die Sprache von Bias und Privilegien. Wenn das Kino eine Bilder- und Affektmaschine ist, dann besitzt diese Maschine, weil sie in einer bestimmten historischen Konstellation entstanden ist, eben auch gewisse Voreinstellungen.

Versperrter Weg zur Transzendenz

Auch wenn Hale County This Morning, This Evening also problematisiert, was sonst gerne abgenickt wird, ist sein Zeigefinger kein mahnender, sondern eben ein zeigender, seine Haltung keine der moralischen Überlegenheit, sondern eine der ethischen Anregung. Ihm geht es nicht darum, Unmöglichkeiten zu behaupten, uns für immer in unsere Wahrnehmung gemeißelte Regeln zu erklären, sondern über ein Problem nachzudenken: dass man qua zugeschriebener Identität sich in einem Raum bewegt, der von außen als sozial und nicht als universell erkannt wird, dass man nicht mal so eben den Platz besetzen kann, der für den Menschen an sich steht, dass die Abkürzung zum Transzendenten versperrt ist.

Kann also dieser Moment eines Jungen im Wind in einem Vorgarten von Hale County, Alabama in gleicher oder wenigstens in ähnlicher Weise für das Leben als solches und die Dinge an sich stehen wie die von Malicks Kamera beschworenen Verkörperungen von Kindheit, Liebe und dem Wesen der Zeit? Keine rhetorische Frage: Kann er es vielleicht tatsächlich just für diesen Moment, und unter welchen Bedingungen ließe sich diese prekäre Position aufrecht erhalten, dieses Bild zu einer neuen Erzählung werden? Ross’ Kritik am Universalismus verläuft über die zeitlich begrenzte Universalisierung von Hale County zur Welt an sich, die schelmische Aneignung jener Fantasie, kein Außen, keinen Kontext denken zu müssen, eine Fantasie, die nur gestört wird durch den blauen Lichtkegel, der nichts erklärt, aber alles irritiert.

 

 

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