Grass – Kritik
Verflüssigung der Geometrie. Hong Sang-soo setzt sich ins Café, malt Drei- und Vierecke aus Figuren und holt den Soju reichlich spät heraus.

Grass, der neue Film von Hong Sang-soo, scheint ein paar Prämissen zu haben: In dieser Welt bringen sich die Leute um, Schauspieler sind per se arbeits- oder sogar obdachlos, die Liebe wird (zu Unrecht?) verlacht, und große Schwestern machen noch die schönste Zweisamkeit kaputt. Nun gut, Letzteres ist vielleicht keine Prämisse, aber eine sehr schöne, verwirrend-traurige Szene, weil der kleine Bruder hier nur die neue Freundin seiner Schwester vorstellen will, aber die kann das Pärchen nicht so recht ernst nehmen und keift verbittert herum. Die Kamera schwenkt zwischen dem Pärchen, das nebeneinander sitzt, und der Skeptikerin hin und her, und nur das Schwarz-Weiß, in das Hong nach The Day After auch diesen Film getaucht hat, spendet dem Ganzen ein bisschen Trost.
Irritierende Dreiecke

Der Hong’sche Kameraschwenk, der Beziehungen herstellt, ist in Grass prominenter als der kommentierende Zoom, weil es hier erst mal schlicht um Geometrisches geht. Darum, was passiert, wenn die Achse zwischen zwei Menschen durch die Anwesenheit Dritter gestört wird, ein irritierendes Dreieck entsteht und ob diese Irritation vielleicht schon aufgehoben werden kann, indem man ein Viereck draus zeichnet, oder ob man die Sache gleichzeitig noch verflüssigen muss, mit Alkohol, auf dass die Linien insgesamt entgradigt werden und alles etwas heiterer zugeht, neue Achsen und Querverbindungen entstehen. Jedenfalls werden hier Dialoge zu Trialogen und schließlich zu Quadrologen, und irgendwann kommt der Soju dazu, den man um die Ecke kauft, aber im Café trinkt, der Wirt hat nichts dagegen.
Nur eine junge Frau (Kim Min-hee) sträubt sich am Ende ein bisschen dagegen, auch noch das fünfte Rad am Wagen zu spielen. Sie sitzt in diesem Café, das den Magneten von Grass bildet, stets am Nebentisch und hört den Gesprächen zu, schreibt ein bisschen mit, benutzt sie vielleicht für eine ihrer Geschichten, ist vielleicht sogar Autorin dieses Films, hat ja vielleicht diese ganzen Kreaturen eigens erschaffen, säße dann also auf einer dieser eigentümlichen Meta-Ebenen, die bei Hong eben niemals Meta-Ebenen sind, sondern eher Para-Ebenen, auf denen die Realität zwar brüchig wird, die für die Kamera aber stets ganz unmittelbar zu erschließen sind.
Abhandlung über Musik im Film

Grass läuft im Forum, nicht im Wettbewerb der Berlinale wie noch im letzten Jahr On the Beach at Night Alone. Ob das nun passt oder nicht, ein Kompliment oder eine Degradierung ist, ist fast egal: Es wird ja ohnehin bald ein neuer Film von Hong Sang-soo auf irgendeinem Festival, in irgendeiner Sektion laufen, und dann gleich noch einer. Grass wird aber einen besonderen Platz in meiner Erinnerung behalten, die ohnehin schon überproportional mit Hong-Bildern gefüllt ist. Schuld daran ist nicht zuletzt die Musik, die in diesem Café läuft: Schubert, Wagner, Offenbach. Diese Musik scheint den oft schmerzhaften Dia- oder Trialogen mal Emphasen zu stiften, mal unpassende Kommentare, mal ein Crescendo aufzubauen, das die Figuren dann in den Sand setzen, mal im eben richtigen Moment in den Hintergrund zu rücken.
Durch diese ständige Reibung von Ethik und Pathos wird Grass gar ein wenig zur spielerischen Abhandlung über Musik im Film, verflüssigt selbst so komplizierte Begriffe wie innerdiegetisch und kontrapunktisch. Mit denen könnte man jetzt zwar der eigentümlichen Wirkung dieser Untermalung auf die Pelle rücken. Man könnte aber auch schlicht feststellen: Hong überlässt eben alles seinen Figuren. Und wenn er ein Café mietet, dann darf der Wirt über die Musik bestimmen. Dieser Wirt ist übrigens nie im Bild. Wie Hongs Kino fügt er dem Geschehen etwas hinzu, indem er ihm äußerlich bleibt. Und dann erlaubt er auch noch Fremdgetränke. Ein Traum.
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