Geographies of Solitude – Kritik

VoD: Jeder Frame eine Entdeckungsreise. In poetischen 16-mm-Aufnahmen liefert Regisseurin Jacquelyn Mills eine Charakterstudie über eine einsame Insel und ihre einzige Bewohnerin und wird dabei von der Beobachterin zur Kollaborateurin.

Vor der Küste der kanadischen Seeprovinz Nova Scotias liegt Sable Island, bescheidene 30 Quadratkilometer groß und mit nur einer menschlichen Langzeitbewohnerin. 40 Jahre ihres Lebens hat die Ökologin Zoe Lucas hier verbracht und Flora und Fauna der Insel erforscht. Auch die Regisseurin Jacquelyn Mills nimmt sich für ihre Charakterstudie über Person und Insel viel Zeit und studiert ihre Subjekte so akribisch wie Lucas jeden noch so kleinen Käfer, der sich auf Sable Island einnistet.

Psychedelischer Beat

Zoe Lucas verfolgt das Geschehen auf der Insel, und Jacquelyn Mills verfolgt Zoe Lucas – das geht so, bis Mills ihre letzte mitgebrachte Filmrolle anbricht. So entstehen viele ruhige Bilder von Lucas, die ihren alltäglichen Aufgaben nachgeht, nur gelegentlich unterbrochen von historischen Aufnahmen der Forscherin. Ob sie Sables raue Strände von Plastikmüll befreit, Tierkadaver inspiziert oder ihre Funde des Tages in endlose Excel-Tabellen einträgt, Lucas ist unermüdlich am Kategorisieren ihrer Heimat. Mills lässt ihre Kamera meist auf der Forscherin ruhen und erzwingt nur selten durch Nachfragen eine Erklärung des Sichtbaren. Doch obwohl nur selten gesprochen wird, ist Geographies of Solitude nie leise. Mills macht den Soundtrack der Insel zum Soundtrack ihres Films, über Blätter krabbelnde Käfer oder brechende Wellen werden zu einem fast schon psychedelischen Beat gemischt.

Auch im Bild arbeitet Mills wiederholt mit einem experimentellen Ansatz. Ihre Herangehensweise erinnert an filmische Vorgänger des Avantgardefilms wie Stan Brakhages Mothlight (1963). Sie testet die Grenzen des Filmmaterials aus, lässt es auf das Material der Insel treffen, auf angespülten Müll und Sable-Flora, die sie direkt in den Filmstreifen einarbeitet. Diese Praktiken des cameraless film, also das direkte Bearbeiten des Celluloids, kontrastieren mit der meist vorherrschenden Inszenierung der Inselnatur in weiten Bildausschnitten und mit späten Cutaways. Wenn Mills mit ihrer Kamera nicht ihrem Faszinationsobjekt Zoe Lucas folgt, dann ist sie damit beschäftigt, aus jedem Frame eine Entdeckungsreise in die wilde Natur der Insel zu machen. Der poetische Naturalismus ihrer Motive – Wildpferde vor dem Sonnenaufgang, ein endlos scheinender Sternenhimmel – erinnert an Bilder, wie sie zuletzt bei Chloé Zhao und anderen Shootingstars des amerikanischen Independentkinos zu sehen waren.

Zunehmend vulnerabel

Aus diesem Wechselspiel von Inselaufnahmen, experimentellen Elementen und Archivbildern schafft Mills eine distinkte Ästhetik. Nur kurz entgleitet ihr ihre sonst so subtile Inszenierung, als sie die Müllverschmutzung der Ozeane in den Fokus rückt: Plötzlich wird der Soundmix bedeutungsschwanger und ein alter Vortrag von Lucas als mahnendes Voice-over eingesetzt. Wo Mills die Folgen des menschlichen Konsums zuvor durch ständige Aufnahmen einer müllsammelnden Forscherin sichtbar machte, da bedient sie sich nun etwas ungelenk dem Tonfall jeder beliebigen Naturdokumentation.

Doch dieser inszenatorische Ausrutscher ist nur ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sich Mills von der Insel und ihrer Bewohnerin in den Bann ziehen lässt, die Probleme des kleinen Habitats zu ihrer Angelegenheit macht. Während sie sich der Forscherin mit rührender Vorsicht nähert, fasst sie selbst mehr und mehr Fuß im Ökosystem Sable Island, tritt allmählich heraus aus ihrer Rolle der stillen Beobachterin und hinein in einen Dialog mit ihrem Subjekt, der zunehmend vulnerabel wird, in dem die Ökologin der Filmemacherin sowie sich selbst erstmals ihre Einsamkeit eingesteht. Dass Zoe Lucas im Abspann dann als „Kollaborateurin“ gelistet wird, fühlt sich genau richtig an.

Den Film kann man bei MUBI streamen.

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