Gehen und Bleiben – Kritik

Volker Koepp rückt die Personen, mit denen er über Uwe Johnson spricht, ins Zentrum der nordostdeutschen Landschaft, aus der sie nicht zu lösen sind. Gehen und Bleiben ist ein Film über das Erinnern und die Frage, wie die Dinge in Erinnerung behalten werden können.

In Christian Petzolds Roter Himmel (2023) gibt es verschiedene Szenen, die auf die Person Bezug nehmen, die den Ausgangspunkt des neuen Films von Volker Koepp markiert. Nicht Uwe Tschonsen, wie es bei Petzold einmal eine Hotelangestellte irrtümlich denglischt, sondern Uwe Johnson heißt der Mann, Schriftsteller, Naturbeobachter, Chronist der deutschen Zweiteilung. Mit der Buchung eines Hotelzimmers, in dem Johnson kurz gewohnt haben soll, will Autor Leon (Thomas Schubert) seinen Verleger (Matthias Brandt) beeindrucken. An anderer Stelle hält er einen Roman von Johnson in den Händen, Das dritte Buch über Achim, 1961 erschienen.

Beschreibung einer Beschreibung

Ein erstes und ein zweites Buch über den ostdeutschen Radrennmeister Achim gebe es schon, heißt es im Roman, nun also ein dritter Anlauf, ein drittes Mal den Blick wagen auf das, was sich sein Leben nennt; ein Buch über die Arbeit an einem Buch und die Herausforderung, ein „Ich“ zu schreiben. Zugleich handelt Das dritte Buch über Achim von sehr bestimmten Perspektiven auf und Interessen an jenem Achim T., 30 Jahre alt, der durch seine Siege den Status des Nationalhelden erhielt. Denn ein westdeutscher Journalist ist es, der sich während eines Aufenthalts in der DDR am Recherchieren versucht, „neugierig auf dies Land und wie darin zu leben wäre“.

Die Neugier verschwindet, zurück will er nach Hamburg. Er wird jedoch bleiben, zweifelnd an dem, was er vor Ort in Leipzig erfährt und erlebt, weil es eben er ist und kein anderer, keiner von denen, die er zu den Gegenständen seiner Arbeit erklärt hat. Wer welche Informationen erhält, wer wem vertrauen kann, überhaupt wer in welche Richtung spricht oder häufiger den Gesprächspartner*innen ins Wort fällt, bringt Johnson in seinem Roman ganz formal mithilfe unterschiedlicher Erzählpositionen und der Zeichensetzung zur Darstellung. Er entwirft vielschichtige Verhältnisse der Rede, codiert, kompliziert, die Begriffe verweisen auf das, was in ihrem Abseits liegt, was sie bezeichnen, aber eben nicht meinen können.

Nicht umsonst trug Das dritte Buch über Achim den Arbeitstitel „Beschreibung einer Beschreibung“, weil es von den Bedingungen handelt, unter denen erst etwas in ein Bild passen kann; weil es um das Abweichende geht, das zwischen Dichtung und Wahrheit, Bezeichnetem und Bezeichnendem, zwischen zwei Ländern, zwischen Ich und Du liegt.

Bewegung schreiben

Beziehungen wie diese sind es, die nicht nur Petzold, sondern auch der Dokumentarfilmer Volker Koepp vermisst. Gehen und Bleiben heißt sein Film, der entlang von Johnsons Leben eine Topografie aufspannt und schon im Titel zwei Pole setzt, zwischen denen sich allerhand Entscheidungen und Bewegungen vollziehen, die Entscheidung zur Bewegung ebenso erkennbar wird wie die Bewegung hin zu einer Entscheidung, die getroffen werden muss. Die Küste, die Wolken, die Wellen, das Wasser, die Steine, der Tau, die Sonne, der Wind, in dem sich die Gräser hin und her wiegen: Sie alle werden zu Mitspieler*innen in diesem Film, der nordostdeutsche Geografien des Mit- und Ohneeinanders verschneidet.

In einer Filmaufnahme zu Beginn darf Johnson noch selbst im Anzug und mit markanter Brille auftreten, sich vorstellen in einer Sprache, die von den Institutionen geliehen ist und in der die biografischen Stationen penibel von Gewässern begleitet werden. In Cammin in Pommern an der in die Ostsee mündenden Dievenow wurde er 1934 geboren, dann ein Germanistikstudium in Leipzig und Rostock, ehe Johnson als „nicht genügend für die Beschäftigung in staatlichen Institutionen“ erkannt wird. Es folgt eine Phase der Arbeitslosigkeit (oder ein „Studium der Eisenbahnverbindungen zwischen Sachsen und Mecklenburg“, wie es Johnson ironisch umschreibt), bis er schließlich wie seine Mutter nach West-Berlin übersiedelt: „1959: Rückgabe einer Staatsangehörigkeit nach nur 10-jähriger Benutzung.“

Reisebegleitungen

An der Dramaturgie dieser Biografie, die Johnson hier entwirft, orientiert sich Gehen und Bleiben insofern, als der Film auf Auslassungen in der Vita hinweist, Ergänzungen und alternative Lesarten vorschlägt, die betonte Knappheit und Genauigkeit, die Johnsons Schreibstil kennzeichnet, untersucht. Alleine unternimmt das Regisseur Koepp nicht, vielmehr beschäftigt sich sein Projekt mit zufälligen und verabredeten Begegnungen. Diverse Gegenüber werden zu ihrem Verhältnis zu Johnsons Schriften und Orten seines Lebens befragt, in Anklam, Nossendorf, Recknitz, über Goldberg, Güstrow bis New York und Kent.

Mit Nachbar*innen, Bekannten, Begleiter*innen, Freund*innen und Leser*innen unterhält sich Koepp auf seiner Reise, und wie nebenbei scheint dieser Film dabei entstanden zu sein, der doch viel mehr zeigt als nur Johnsons Vergangenheit. Texte werden vorgelesen, eingeordnet und diskutiert, Vergleiche gesucht, Verweise angestellt, Fotos rausgekramt. In die Bildmitte werden die Personen gerückt (Kamera: Uwe Mann), stets als Teil einer Situation, einer Landschaft begriffen, aus der sie in gewisser Weise nicht herauszulösen sind. Die wichtigsten Dinge im Leben müssen eben manchmal unter einem Schirm besprochen werden, während der Regen plätschert, das ist bei Koepp ein klarer Fall.

Neugierig ist er auf Johnson, aber auch und erst recht auf die Menschen, die er trifft und die wiederum je eigene Geschichten mitbringen, vom Bewegt-Sein und Bewegt-Werden, vom Sich-Bewegen-Wollen und dem Nicht-Bewegen-Können; vom Stürzen in die Bücher, die ferne Welten dermaßen eindrücklich schildern, als hätten wir es geschafft, sie zu besuchen und uns in ihnen umzusehen; vom Aufbrechen und Zurückkommen, von Bäumen, die mittlerweile so hoch gewachsen sind, dass sie den Blick auf das Ufer versperren, das früher noch bestens aus dem Fenster zu sehen war.

Mit Verspätung

Gehen und Bleiben ist ein Film über das Erinnern und die Frage, wie die Dinge in Erinnerung behalten werden können. Die Zeit fällt in diesen Film hinein und zugleich aus ihm heraus, unterbricht immer wieder die Dreharbeiten; zunächst die Covid-19-Pandemie, später der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine am 24.2.2022. Beides zieht sich thematisch durch den Film, es sind Punkte, die ein „Davor“ und ein „Danach“ organisieren. Eine „Rückkehr zur Normalität“, das wird vor der Kamera besprochen, die gibt es nicht, wieso sollte die Normalität überhaupt erstrebenswert sein. Schon bei Johnson scheint das als Frage auf, wenn dort gefischt wird, wo die Menschen starben und sterben.

Wie die Züge kommen die Worte mit Verspätung, doch irgendwann werden sie kommen, darauf ist Verlass. Es lohnt sich zu warten.

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