Gambit – Neue Wahrheiten über Seveso – Kritik
Hinter einem ins kollektive Gedächtnis gebrannten Skandal stehen immer auch persönliche Schicksale und die Schuldfrage. Gambit geht diesem spannenden Komplex nach.

Auf einem Foto mit Hakenkreuzen im Hintergrund ist Jörg Sambeth im Alter von fünf Jahren zu sehen. Er küsst das Mädchen Gabriele. Jahre später wird sie seine Frau werden. Schon mit 26, so berichtet Sambeth nicht uneitel, erhält er die Doktorwürde. ei Höchst, Bayer oder BASF könnte er lukrativ unterkommen – doch dort scheint ihm die Entnazifizierung nicht fortgeschritten genug. Mit Gabriele und den Kindern wandert er in die Schweiz ab und wird technischer Direktor im Givaudan-Konzern, einem Tochterunternehmen der La-Roche-Gruppe. Das Glück scheint perfekt. Doch in den altersmüden Mauern der Fabrik im norditalienischen Seveso wird Trichlorphenol hergestellt – ein Ausgangsprodukt für Desinfektionsmittel. Am 10. Juni 1976 gibt es eine Explosion und aus dem Reaktor strömt eines der furchtbarsten Gifte überhaupt: Dioxin.
Mit dieser Katastrophe beginnt auch die persönliche Tragödie Sambeths, der sich nun in diesem Dokumentarfilm dafür verantworten und doch auch gleichzeitig entlasten möchte. Er ist der rote Faden von Gambit: Seine privaten Super-8-Bilder und die mit der Regisseurin geführten Interviews werden mit den Nachrichtenbildern der Umweltkatastrophe gekoppelt. Auch seine Tochter kommt zu Wort, heute Anwältin, nach eigener Aussage, um für Gerechtigkeit zu streiten – die ihrer Familie nach eigener Einschätzung nicht widerfuhr.

Die Konzentration auf Sambeth und seine Familie ist ein Risiko, das Regisseurin Gisiger eingeht und dem sie ein wenig Tribut zahlen muss. Der Versuch, das private Schicksal eines Mannes vor dem Hintergrund eines allgemeinen Unglücks zu erzählen, birgt Risiken. Zwar dient der Ort Seveso als bildliche Rahmung, doch zentral kommt immer und immer wieder der mit sich selbst ringende Sambeth zu Wort – ohne entsprechende Widerstimmen. Einige Anwälte äußern sich eher dubios als konkret. Das berühmte Beispiel von den Figuren auf dem Schachbrett fällt. Sambeth war ein Bauernopfer. Seveso, so heißt es am Anfang, ist heute entseucht und sicher. In einem Zeremoniell wird der Ort seinen Bewohnern wiedergegeben. Bei Sambeth verhält es sich nicht so einfach. Das ist die Bestandsaufnahme, die der Film liefern kann. Neue Wahrheiten, wie es der Untertitel verspricht, verbreitet er kaum, und wenn, sind diese subjektiv. Dem eigentlichen Skandal, der vermeintlichen militärischen Nutzung des Werks, sowie der Entsorgungscharade um die Giftfässer, kann der Film kaum nachgehen. Dafür reicht Sambeths Perspektive nicht aus.
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