Blinden Schrittes – Kritik

VoD: Im Zentrum von Blinden Schrittes stehen Fotos, die Gefangene in KZs machten. Christophe Cognets Dokumentarfilm erforscht die Entstehung dieser Aufnahmen und entfaltet eine beispiellose Erzählung von Solidarität und Widerstand.

Schon die schiere Existenz des fotografischen Materials ist beeindruckend. Gefangene in Konzentrations- und Vernichtungslagern machten unter Einsatz ihres Lebens Bilder: von Appellplätzen und Bänken, dem rauchenden Schornstein des Krematoriums, ankommenden Waggons, den Mithäftlingen. Alberto Errera, eine Person aus dem Kreis dieser mutigen Fotograf*innen, schaffte es sogar, das Davor und Danach innerhalb der Gaskammer festzuhalten. Die unbemerkt entstandenen Aufnahmen wurden aus Dachau, Buchenwald, Mittelbau-Dora, Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau hinausgeschmuggelt und entwickelt; sie haben überlebt. Für seinen Dokumentarfilm Blinden Schrittes (From Where They Stood) hat Christophe Cognet diese schwarz-weißen, analogen Beweisstücke zusammengerufen. Wie der Regen hat er sie aus der Unsichtbarkeit an die Oberfläche gespült, damit sie von der Vergangenheit berichten können.

Welche Perspektive wird im Bild wie sichtbar?

Die Fotografien sind jedoch weniger Darstellungen des alltäglichen Lebens der Häftlinge im Konzentrationslager. Stattdessen sind sie für sich stehende Akte von Widerstand, in die sich teils auch der Wille zur Überlieferung eingeschrieben hat – als Frage danach, wie ein industrieller Mord für die Nachwelt ins Bild gesetzt werden kann und erinnert werden soll. Cognet spürt die Geschichten auf, die den Fotos innewohnen, analysiert beispielweise den Schatten der Bäume, um den Zeitpunkt einer Aufnahme festzumachen. Der Titel seines Films, Blinden Schrittes, markiert die Suche, auf die sich der Regisseur begibt. Er besucht die Schauplätze der Verbrechen, um zu verstehen, unter welchen Umständen die Aufnahmen entstanden sind. Wo hat genau die Fotografin gestanden? Welcher Wachturm war in der Nähe und provozierte diese spezifische Körperhaltung, die beim Knipsen eingenommen werden musste, um die Kamera zu verstecken? Welche Perspektive wird im Bild wie sichtbar?

Blinden Schrittes ist eine ernsthaft-spielerische Auseinandersetzung mit den Herstellungsprozessen, die zu den jeweiligen Bildern geführt haben. Cognet bedient sich dafür einer simplen, effektiven Inszenierungsstrategie. Er lässt manche der alten Fotografien auf Glasplatten drucken und platziert sie im Film an den Orten ihrer Entstehung auf Stativen, genau so, dass der gewählte Bildausschnitt passt. Die Kamera (Bildgestaltung: Céline Bozon) nimmt die einstigen Positionen erneut ein, muss sich so bücken, wie es vor ihr eine andere Kamera tat. In Blinden Schrittes wird das Bewegt-Sein im Stillstand nachvollziehbar. So werden Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Überlagerung, Geschichte als Schichtung markiert. Die fotografischen Tätigkeiten der Gefangenen fallen mit denen der Tourist*innen von heute zusammen, die die Gedenkstätten besuchen. Die Figuren auf den Bildern scheinen sich aus ihrer Stillstellung zu lösen, wenn sich die Menschengruppen in Farbe hinter der Glasplatte mit dem schwarz-weißen Original in Bewegung setzen.

Obsession für den richtigen Ausschnitt

Kontinuierlich setzt sich Cognet in Beziehung zu den Bildern, den Orten, den Expert*innen, die ihm die komplexen Strukturen und Aufteilungen innerhalb der Konzentrationslager erläutern, den verschiedenen Übersetzerinnen, die die Fragen des Regisseurs weiterleiten und zu zentralen Akteurinnen im Film werden, stellen sie doch Verständnis her. Mit seinen grauen Haaren, der markanten Brille und den weißen Handschuhen, die er trägt, um auf den Glasplatten keine Spuren zu hinterlassen, betreibt Cognet eine interessante Selbstinszenierung. Vor allem in seinem Willen, alles exakt zu verstehen und Nachfragen zu stellen, erinnert sein Verhalten im Film an den Habitus von Claude Lanzmann in Shoah (1985). Dennoch (oder gerade deswegen) entfaltet Blinden Schrittes in der Obsession für den richtigen Ausschnitt, für die Deckungsgleichheit von Zeit, eine beispiellose Erzählung von Solidarität und Widerstand in der Machtstruktur KZ, wo Kameras geschmuggelt und in Zeitungen versteckt wurden; wo eine Person nur auf den Auslöser drücken konnte, weil drei andere Schmiere gestanden haben müssen; wo Bilder immer komplizenhaft auftreten und stets auf das verweisen, was außerhalb ihres Rahmens liegt.

Der Film steht bis 22.02.2023 in der 3Sat-Mediathek.

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Kommentare


Friedrich

Ich möchte gerne bitte diesen Film im Wochenkino sehen.


Friedrich

Ich hatte mich sowieso schon wieder durcheinandergebracht in meinem Schwung, was ja nicht schlecht sein muß, weil der vorher zu wenig durcheinander war (ich hab's: ich bin jetzt nicht mehr durcheinander und gleichzeitig nicht mehr nicht durcheinander), die Frage ist, warum habe ich überhaupt angefangen damit, durcheinander und nicht durcheinander zu sein?






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