Freistaat Mittelpunkt – Kritik

In seinem Dokumentarfilm Freistaat Mittelpunkt erzählt Kai Ehlers von einer Zwangssterilisation, von Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und BRD, und von einem Ehepaar, das sich ins Moor zurückzieht. Wie übergriffig ist ein Eingriff ins Archiv?

Das Moor wirkt irgendwann in Freistaat Mittelpunkt nicht mehr bedrohlich. Was noch in der ersten Einstellung als märchenartiges Gebilde im Nebel lag, verwandelt sich im Filmverlauf zu einem Ort, durch den sich die Kamera gekonnt bewegt. Sie hat hier schließlich viel Zeit verbracht und ist im besten Sinne ortskundig geworden, dort der feucht-modrige Wald, da die Allee, drüben der Bahnübergang vom nahegelegenen Dorf. Die Kamera findet sich zurecht, stöbert durch jene Umgebung, in die sich das Ehepaar Grassmé einst zurückzog, weil abseits jenes Schleswig-Holsteiner Torfmoors der eigentliche Horror haust.

Auftritt der Institutionen

Drei Stimmen sind es, die in Kai Ehlers’ Film über den Aufnahmen aus dem Moor liegen. Sie lesen Briefe und andere Dokumente vor, von Berta und Ernst Grassmé eben (Kristina Krupp und Reinhold Ehlers), und von denen, die der Abspann als „alle anderen“ (Michael Ebert-Hanke) aufführt. Dabei ist die Figur der „alle anderen“ eine chorische, in ihr fallen verschiedene Gegenüber der Verheirateten zusammen. Aber diesen Chor eint die Tatsache, dass „alle anderen“ staatliche und/oder medizinische Institutionen repräsentieren, die anstatt mit Ernst lieber über ihn sprechen. Obwohl die einzelnen Einrichtungen und ihr Personal über die Dauer des Films wechseln, bleibt Michael Ebert-Hanke als Stimme erhalten. So entsteht eine Kontinuität, eine akustisch vermittelte andauernde Autorität der Anstalten, die brutal bestimmen, was einer Norm entspricht und wie mit dem umgegangen werden soll, das ihr zuwiderläuft.

Davon erzählt Freistaat Mittelpunkt mittels eines dokumentarischen Aufbaus: Ehlers vollzieht anhand datierter Schriftstücke, die durchgehend zu hören, allerdings nie zu sehen sind, die Stationen des Lebens von „Patient“ Ernst Otto Karl Grassmé nach. In der Zeit des NS-Regimes wurde der Altonaer Bürgermeister interniert und zwangssterilisiert, da ihm eine Schizophrenie diagnostiziert worden war. Die Unfruchtbarmachung („eine Erbgesundheitsmaßnahme“) sollte Grassmé, so die eugenisch legitimierte Ideologie, weniger als Bestrafung und vielmehr als vermeintlich notwendiges Opfer verstehen, das den Fortbestand der deutschen Bevölkerung sichere. Nach der Entlassung zog Grassmé mit Ehefrau Berta in das von der Familie geerbte Häuschen im Moor, wo beide bis zu ihrem Tod ungefähr 40 Jahre unter sich und in der Abgeschiedenheit lebten. In diesem „Paradiesgarten“, wie er einmal in einem Brief notiert, entwickelten sich beide zu passionierten Briefschreibenden – obgleich der Film den Fokus stärker auf Ernst legt als auf Berta, die schriftlich immer wieder in einer BRD der Nachkriegszeit um Entschädigungen bat oder sich auch mal ordentliche Schlagabtäusche mit Ämtern um die Mündigkeit ihres Mannes lieferte.

Imaginationen

Ernst hingegen adressiert die meisten seiner Zeilen an Brieffreundin Katja: „meine Katja“, „liebe Katja“, einmal: „meine Sekretärin“. Der Film stellt Katja an einer Stelle als Tochter eines Nachbars vor, der Ernst in der Jugend begegnet sei. Zugleich lebt Freistaat Mittelpunkt von der Faszination dieser Katja – und der Unsicherheit, ob es sie tatsächlich gab, wer sie eigentlich war und inwiefern sie Ernst auf dessen unzählige Botschaften und Alltagsberichte antwortete. So wie hier überhaupt zwischen Ton- und Bildebene nach Verbindungen gesucht werden muss. Die Bilder von Wiesen, Bäumen, Hühnern stammen aus einer Gegenwart des Moores und entwickeln eigene Motive, die sich wiederholen und mitunter gegen das streben, was inhaltlich verhandelt wird. Eine Frau, die eine Kuh über eine Weide führt, eine Frau mit Pferd, eine Jagdgemeinschaft mit Hörnern, Schlachtungen, Melkvorgänge. Die Ausführungen von damals überschreiben die Flächen, die ein Jetzt abbilden sollen. Mit den Augen platziere ich Katja vor einem Baum. Was die Imagination anstellen kann, wenn sie denn will.

„Der Narr vom Bokelsesser Moor“ lautete der Arbeitstitel dieses Films, der teils durch eine Crowdfunding-Kampagne finanziert wurde, und es ist gut, dass er nicht mehr so heißt. Denn erstens scheint es nicht wenig problematisch, den psychisch kranken und traumatisierten Ernst Grassmé als Narren zu bezeichnen (auch der Film geht gar nicht so mit ihm um, dafür hat er ein viel zu großes, ernsthaftes Interesse an all den Hinterlassenschaften dieser Person); und zweitens geht es eben nicht nur das konkrete Moor, durch das die Kamera waten kann. Freistaat Mittelpunkt entwirft Verhältnisse, Beziehungsnetze, handelt von Berta Grassmé und dieser einen Katja, die ohne Nachnamen bleibt, von Ausgrenzung und souveränen Einsamkeiten, von Blicken aufeinander. Der Film kann gar nicht nur von dem Individuum erzählen, das er in den Mittelpunkt stellt, weil es im Falle von Ernst Otto Karl Grassmé um die grundlegenden Auftrittsbedingungen geht, unter denen sich als selbstbestimmte Hauptfigur in Erscheinung treten lässt, im eigenen Leben wie im Film, und was es bedeutet, wenn andere biografisches Material aufbereiten.

Anerkennung

2013 führte Ehlers Regie bei Helene Fischer – Allein im Licht, einer Art Konzertfilm, für den er die Schlagersängerin auf ihrer Tour begleitete. Der Zusammenhang mag irritieren, und doch scheinen Freistaat Mittelpunkt und Helene Fischer – Allein im Licht auf merkwürdige Art und Weise miteinander verbunden: Jeweils geht es darum, wer auf der Bühne steht und wer nicht, wer Insider und wer Outsider ist. Spoiler: Bilder von weinenden Fans gibt es hier nicht. Aber dieser Moment der Anerkennung, den die Konzertbilder beglaubigen, während er in Freistaat Mittelpunkt auffallend fehlt, weil dem Ehepaar Grassmé Wiedergutmachungen und Entschuldigungen seitens Verantwortlicher verwehrt bleiben, befruchtet beide Arbeiten und setzt sie in ein dialogisches Verhältnis.

Begleitet wird der Film von einem umfangreichen Online-Archiv, in dem sich Postkarten, Sterbeurkunden, Gesetze, Fotografien (Ernst ließ sich nach seiner Entlassung weiterbilden und knipste selbst) und Interviews mit Wegbegleitenden befinden. Das Archiv schafft einen digitalen Ort, an dem Wissen angehäuft und versammelt wird. Gleichzeitig aber verstärkt dieses Archiv die Tendenz des Films, den Blick nicht zurückzuwerfen, die Position des Filmemachers Ehlers, der mit all der Lebensgeschichte umgeht, zu ignorieren. Indem Freistaat Mittelpunkt auf einordnende Kommentare verzichtet, will der Film das Ehepaar Grassmé (oder nur Ernst?) in autonome Erzählpositionen rücken. Dabei entwickelt Ehlers jedoch keine Form, mit der sich über filmische Verantwortung nachdenken ließe, oder über die Gefahr voyeuristischer Grenzüberschreitung. Freistaat Mittelpunkt erkundet die Lückenhaftigkeit von Dokumenten und Erzählungen, und tappt doch selbst in die Falle.

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