Fluchtweg nach Marseille – Kritik
Neu auf DVD: Auf den Spuren des Fluchtwegs aus Nazideutschland, Anna Seghers Roman Transit im Gepäck. Fluchtweg nach Marseille (1977) zeigt Landschaften, die sich ihrer Geschichte nie entledigen konnten. Doch die Aufnahmen greifen nicht auf die Leute über.
Damals hatten alle nur einen einzigen Wunsch: abfahren.
Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben.

Ingemo Engström und Gerhard Theuring fahren nach Marseille. Auf den Spuren des europäischen Fluchtweges während des Zweiten Weltkriegs. Im Gepäck Anna Seghers Roman Transit, der als moralische und geografische Karte konstant zitiert und bespielt wird. Wir zogen unsere Blicke auseinander – nicht ohne Anstrengung. Ihr Film Fluchtweg nach Marseille ist, laut Untertitel, ein Arbeitsjournal. Frei in seiner Entfaltung, aber vordefiniert in seinem Geschichtsverständnis.
„So sind wir Agenten der Erinnerung? Grenzgänger zwischen gestern und heute. Also ein Agentenfilm?“, fragt Theuring. „Ja, aber zugleich ein archäologischer Film“, antwortet Engström und legt Polaroids über Postkarten auf Bücher. Bilder in Bilder in Bildern. Walter Benjamin war, wie der Film später ausführt, der Überzeugung, dass sich jede Vergangenheit in der Gegenwart wiederfinden muss, um erkennbar und erinnerbar zu bleiben. Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Die Parallelisierung von Vergangenheit und Gegenwart erfolgt deswegen hier immer auch durch eine materielle Überschichtung der Narrative. Es geht in Fluchtweg nach Marseille um Bilder der Résistance. Darum, diese Schichten aufzudecken, die historischen Verbindungen zu zeigen, deren sich diese Landschaften nie entledigen können. Es geht um Erinnerungsarbeit. Zwei Teile, zwei Blicke auf Deutschland und auf Frankreich: 1945 und 1977.
Ich blieb letzten Endes immer alleine zurück.
Unbeschädigt zwar, aber dafür auch alleine.

Der Zweite Weltkrieg ist längst in den Atomkrieg übergegangen. „Die Freiheit behauptet sich von den Reklamewänden.“ Die Kinder von Marx und Coca-Cola etc. etc. Interessanter ist die Suche, der Blick zurück. Die Kamera gleitet langsam über Paris, schön und etwas träge, Zeit schleppend. Es ist der Kamera unmöglich, die Vergangenheit zu vergessen. Jede Straße besteht aus Stolpersteinen, an jeder Fassade klebt Blut, jede Brücke hat gesündigt.
Der Film hält in Oradour-sur-Glane. Der Himmel ist grau. Am 10. Juni. 1944 massakrierte die SS dort fast alle Einwohner. Die Kamera fährt durch die Trümmer, während auf der Tonspur die Erinnerung einer Überlebenden verlesen wird. In einem Film, in dem zu oft zwangsläufig die Geschichte der Überlebenden gleichbedeutend mit der Geschichte der (deutschen) Intellektuellen ist, etwas Ausgleich.
Schriftsteller – „Leute, die keine Geschäfte zu machen vermochten“, wie es Alfred Kantorowicz so passend beschreibt – wurden im Vichy-Regime systematisch verfolgt und an die Deutschen ausgeliefert. Man benötigte ein Visum für das Land, in das man einreisen wollte, den Transitschein, um zu diesem Land zu gelangen, und das visa de sortie, um Frankreich verlassen zu dürfen. Ich muss sie durch Zufall treffen, irgendwann, irgendwie – Doch was fehlt Ihnen? Denn Ihnen fehlt auch etwas.
Wie in Transit schlagen sich die meisten aus alten Lagern nach Marseille durch. Engström und Theuring besuchen deswegen Le Vernet, das Pyrenäenlager. [D]enn wenn schon mal krepiert werden musste. Dann doch nicht hinter Stacheldraht. Ein Friedhof versteckt in einem Maisfeld. Etwas weiter abseits brache Scheunen. Aufgebrochene Fenster. Rote Kacheldächer. Viel Grün. Etwas Wind. Die Kamera bleibt ruhig und gedenkt in sanften Schnitten. Hier führte Bruno Weil Tagebuch. Rudolf Leonhard schrieb seinen Gedichtszyklus Le Vernet. Seine Frau, Yvette Prost, arbeitete als Sekretärin im Rathaus von Marseille und half so vielen deutschen Exilanten weiter. Der Großteil des Gefangenen landete gegen Ende in Massengräbern oder wurde direkt nach Auschwirtz depotiert.
Bald drohte mein Herz, sie sei bereits auf dem Meer.
Bald drohte mein Herz, ich würde sie wiederfinden.

Katharina Thalbach sitzt auf dem Rücksitz eines Autos und fährt Frankreichs Küste entlang. Sie erzählt in einem sehr ernsten, überlegten Tonfall über die Liebesgeschichte in Seghers’ Roman. Über Marie, die sich niemals wirklich dem Leser erschließt, immer auf der Suche ist, aber die dennoch hoffnungslos liebt und hoffnungslos geliebt wird. Er war wohl kein Mensch, verstehst du, der – nun der, verstehst du, der oft, der leicht geliebt wurde. Für sie, Thalbach, sei die Arbeit an so einem Journal ja auch neu. Man wisse nicht so ganz, was man sich davon verspreche.
Der Film versucht weiterhin, dem Roman zu folgen, findet aber nur Leerstellen und Fragmente. Die Botschaften und Konsulate sind noch erkennbar. Die Straßenschilder sind noch da, aber die Hausnummern passen nicht mehr. Stattdessen Eindrücke aus dem Afrikanischen Viertel, immer Alltag. Inzwischen war der Monat zu Ende gegangen, für den man mir Aufenthalt gewährt hatte. Ich fühlte mich schon ganz eingemeindet. Ich hatte ein Zimmer, einen Freund, eine Geliebte. Man filmt und interviewt auch einige der relevanten Akteure und Organisationen, die dem Roman entwichen sind. Das International Rescue Committee, das vielen Deutschen zur Flucht verhalf. Mehr Zeitzeugenberichte, gesammelt in Hamburg, Frankfurt oder Paris.
Der Film breitet sich weiter aus nach Spanien. Erzählt von Walter Benjamin, der Flucht, dem misslungengen Grenzübertritt, dem Selbstmord. „Hier sprechen wir von den Grenzen des europäischen Exodus 1946, das heißt, wir sprechen zugleich von Spanien 1936.“ Prades. Pablo Casals, der weltbekannte Cellist, ist im selbsterwählten Exil. Wir sehen eine Landstraße. Ein karger Baum. Eine kleine Kapelle. Darauf wurde blass in Schwarz „Franco Assassin“ gesprüht. Im Hintergrund die Gebirgszüge der Pyrenäen. Darüber Casals El cant dels ocells, der sich beständig durch den ganzen Film zieht.
Es ist diese Arbeit mit den Landschaften, diese bewusste Erinnerungsarbeit, die mehr und mehr in den Fokus rückt. „Und schwach nur schimmert die Erinnerung durch die Gesichter der Landschaft“, intoniert Theuring. „Und schwach nur schimmert die Erinnerung durch die Gesichter der Städte“, stimmt Engström zum Duett ein. Grund, der von einem anderen bekannten europäischen Regisseurspaar, Straub-Huillet, definiert und strukturiert wurde, hier aber nicht in der Strenge und Konsequenz von Fortini/Cani (1976) umgesetzt wird. Fluchtweg nach Marseille ist freier, definiert sich mehr durch den Rhythmus seiner Montage, den Wechsel zwischen Zeitzeugen und Zitatspielen, von dem man sich gerne weitertragen lässt.
Ich begleitete ihn zum Nachtzug. Ich sah von dem hochgelegenen Bahnhof hinab auf die nächtliche Stadt, die nur schwach erleuchtet war aus Furcht vor den Fliegern. […] Ihr Herz aber, ohne Zweifel, schlug immer weiter im Takt Europas, und wenn es einmal aufhören würde zu schlagen, dann müssten alle über der Welt verstreuten Flüchtlinge auch absterben […].

Desto mehr ich mit dem Film lebe, desto mehr stört mich das Sujet. Dass das Gewöhnliche seiner Landschaftsaufnahmen nicht auf die Leute übergreift. Die Art, wie hier das Leiden erst durch die intellektuelle Nähe zu dem Material verstanden wird. Der Winkel sich so häufig wie bei den Zeitzeugenberichten in Oradour-sur-Glane bricht. Ich denke an die Adressliste deportierter Juden, die Thomas Heise in Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019) für fast zwanzig Minuten durch die Kamera laufen lässt. Ich denke an Susan Hillers J-Street Project (2002–2005), das einen ähnlichen Ansatz fährt, aber holistischer. Ich denke an Dominik Grafs ähnlich falsch kalkulierten PowerPoint-Exilessay Jeder schreibt für sich alleine (2023), der am Ende dröge Kulturkampfpunkte zu der andauernden Straßenumbenennungsdebatte anstoßen will. Ich bin der schlechteste Marxist, aber in diesen Momenten ist und bleibt dieses Kino einfach zu burgeois.
Vor ein paar Monaten konnte ich Sylvain Georges Nuit obscure – feuillets sauvages (Les brûlants, les obstinés) in Hamburgs Metropolis-Kino nachholen. (Der zweite Teil, Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où, premierte in der diesjährigen Ausgabe von Locarno). Wie Seghers Roman spielt auch dieser Film in einer Grenzregion. Melilla ist eine spanische Enklave in Marokko und damit einer der Brennpunkte aktueller Immigrationspolitik. Die Stadt ist umzäunt wie ein Hochsicherheitsgefängnis, frisst Meter an Meter an Stacheldraht und verschanzt sich vor den afrikanischen Immigranten, die Überfahrt suchen.
Wo Engström und Theuring sich auf die Landschaften fokussieren, ist Georges Fokus auf den Körpern der oft jugendlichen Migranten. Die Résistance beginnt in dem Wissen, wie man sich durch die Wellen an Draht und Nieten und Metall bewegen muss, um hinter den Zaun zu gelangen. Es sind keine hoffnungsvollen Bilder, aber sie sind ein notwendiges Gegenwicht zu der bürokratischen Lethargie von Transit. Bilder, die über Monate verhandelt wurden. Bilder, die eine Egalität zwischen Kamera, Regisseur und Subjekt herstellen, die ich so selten gesehen habe. Befreite Körper und befreite Bilder.
Alle Zitate wurden dem Roman Transit (Berlin: Aufbau 2020) entnommen.
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