Favula – Kritik
Poetik der Rückprojektion: Raul Perrone hat sich in seine Garage vor den Toren von Buenos Aires zurückgezogen und dort einen Film gemacht, der keinen anderen Ort kennt als das Kino.

Beschreiben lässt sich Favula nur schwer, aber natürlich müssen wir es versuchen. Raul Perrone, großer Bewunderer des frühen Kinos und seit fast 30 Jahren ultra-produktiver Filmemacher, setzt seine Suche nach einem neuen alten Kino fort, die er spätestens mit dem großartigen Skater-Stummfilm P3ND3J05 begonnen hatte. Waren dort noch mehrere Dialogszenen mit den guten, alten Zwischentiteln versetzt, so ist die Sprache in seinem neuesten Werk fast vollkommen abwesend. Wenn die Figuren sprechen, dann tun sie das in einer Sprache, die es nicht gibt. Ein oder zwei Mal wird ein solcher Dialog untertitelt – auch dann lässt sein Inhalt nicht gerade viele Einsichten zu –, ein anderes Mal bleiben die Untertitel weg. Dann sehen wir ein Bild als Bild, obwohl es nach Bedeutung schreit. Im Vordergrund, in der rechten Bildhälfte, ein junges Mädchen neben einer Tür, die zu einer Küche führt, in der – im Hintergrund der Einstellung, in der linken Bildhälfte – ein Ehepaar miteinander spricht. Ein sehr klassisches Tableau, die Lauscherin an der Wand, dem Perrone die Sprache entzieht, um auf die Kraft der filmischen Sprache hinzuweisen, die er so liebt. Der Stummfilm ist nicht das bessere Kino, doch sehen wir anders, wenn wir nicht hören.
Collage aus der Garage

Der Verzicht auf Sprache bedeutet nicht, dass Perrone die Tonspur vernachlässigen würde. Noch stärker als in P3ND3J05 ist es ein wahnwitziger Soundtrack, der den Rhythmus von Favula vorgibt. Mal sind es stark verlangsamte, auf ihre Essenz reduzierte Latino-Rhythmen, mal eingängige und doch unter Spannung stehende Piano-Melodien, die bald zwei Einstellungen aneinander binden, bald Risse durch eine einzige jagen. Ein Großteil dieser Einstellungen zeigt einen dschungelartigen Hintergrund, vor dem sich Figuren bewegen wie in einem fotorealistischen Puppentheater. Silhouetten billiger Pappmaché-Vögelchen fliegen durchs Bild; anders als bei Handmade-Fetischist Michel Gondry ist das bei Perrone aber weniger ausgestellte Verspieltheit als ernsthafter Versuch einer Rückkehr ins Universum eines Méliès. In dieses Setting scheinen die Figuren selbst nur hineinkopiert, ihre Gesichter schweben durch den Wald, ihre Rümpfe verlieren sich im Dickicht. Die Montage scheint im Bild selbst stattzufinden, das meist eine Collage ist aus rückprojizierten Hintergründen, menschlichen Körpern, abstrakten Texturen, Überblendungen, surrealistischen Objekten, ohne jede Illusion von Tiefe.

Entstanden sind die Elemente dieser Collage fast vollständig in einer Garage in Perrones Heimat Ituzaingó, einem Vorort von Buenos Aires, die er zu einem Kino und einem Atelier ausgebaut hat. Er sieht dort Filme, er macht dort Filme. Niemals verlässt er Ituzaingó, so heißt es – auch nicht, um nach Locarno zu fliegen, wo Favula in diesem Jahr gezeigt wurde. Die Einwohner dieser Stadt sind das Menschenmaterial seiner neuesten Filme, und dieser Ausdruck darf hier ruhig einmal positiv verstanden werden. Perrone erzählt keine Geschichten mehr aus dieser Stadt, wie er es früher getan hat, er setzt ihre mit auffälligen Gegenwartsmarkern ausgestatteten Körper vielmehr in längst vergangene Zusammenhänge. Ein Teenager mit einseitig abrasierten Haaren streift durch eine Landschaft, die ganz dem Kino der 1920er Jahre zu gehören scheint.
Das pochende Bild

Favula atmet, lebt. Seine Rahmung ist keine feste, sie zieht sich kreisrund mal enger, mal weiter um das Geschehen, dehnt sich dabei fortwährend an den Rändern aus und zieht sich wieder zusammen, in Herzschlag-Frequenzen. Zugleich aber vergeht jedes Bild in dieser Bewegung, wird älter. Mit jedem Pulsschlag wechseln die Schwarz-Weiß-Töne, lassen die Kontraste nach, mogeln sich Grün- und Blaustiche ins Bild. Für eine Zehntelsekunde ist dieses Bild klares Schwarz-Weiß, in der nächsten schon verblichenes Sepia. Dazu Risse, Linien, sich zersetzendes Material. Das Kino lebt und stirbt zugleich: Es lebt, weil seine Bilder noch atmen; es stirbt, weil sie dabei altern, weil sie vergänglich sind und vor unseren Augen vergehen. Vielleicht ist Perrone hier nicht einmal Nostalgiker. Vielleicht muss das berühmte Diktum, dass das Sterben zum Leben gehört, auch für Filmstreifen gelten. Wie menschliche Tote wären sie irgendwann dem direkten Zugriff entzogen, müssten in der Erinnerung weiterleben. Ich schaue keine Filme, sagt Perrone in einem Interview, ich erinnere mich an sie, und ich habe ein gutes Gedächtnis. Und das beschreibt Favula in der Tat recht gut: eine Erinnerung an vergangene Filme, die auf die Gegenwart zurückgreifen muss, um sich materialisieren zu können. Zugleich eine Erinnerung ans filmische Material, eine aus digitalen Mitteln entstandene Beschwörung sterbenden Zelluloids.
Das projizierte Außen

Dieses filmische Material an sich ist Perrone vielleicht weniger wichtig als das Verhältnis zwischen Kino und materieller Welt, wie es sich vor allem in der Rückprojektionstechnik ausdrückt. Hier wird Welt nicht abgefilmt, sondern entsteht auf der Textur von offensichtlich längst abgefilmten Welten. Die opaken Rückprojektionen hebeln den festen, souveränen Kader aus, indem sie über ihn hinausweisen. Sie produzieren ein potenziell unendliches Außen, das den Kern des Bildes nur umso deutlicher freilegt. Kino versteht Perrone nicht als Kunst der Rahmung, die das Bild von außen umschließt, sondern als Kunst der Flächen, die sich von innen ihren Weg bahnen, bis sie zum Rand hin ausfransen, um dort etwa an die diffusen, atmenden Grenzen des Bildkaders von Favula zu stoßen. Es wird nicht etwas gerahmt, es schält sich etwas heraus. Aus Flächen werden Körper, Gesichter, Ereignisse, Intensitäten. Die beweglichen Begrenzungen dieser Körper sind die wichtigeren Konturen als die klaren Linien der Leinwand, die diese Körper beherbergen.
Wenn Favula also ein nostalgischer Film ist, dann weniger wegen seiner Reflexion sterbenden Zelluloids als wegen seines Bedauerns über die überdeutliche Verankerung filmischer Geschehen in eine Welt, in der von vornherein alles präsent ist und nichts projiziert; eine Welt, aus der sich nichts mehr herausschält, weil alles da ist. „Back to Black“ steht auf dem T-Shirt eines der Mädchen im Film. Abgesang oder Aufruf zum Neuanfang? Das Schwarz zurückholen, selbst wenn es heute nicht mehr Abwesenheit von Licht ist, sondern nur eine Zahlenkombination. Weil es noch immer eine Fläche sein kann, aus der sich schon bald etwas herausschälen wird; das Schwarz als Kraft, die vorenthält, die unserem Sehen etwas entzieht und in unser Begehren verlagert.
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