Favoriten – Kritik

Wissensvermittlerin, Mediatorin, Trösterin, Richterin, dance instructor, geduldige Nachfragerin und Motivationstrainerin: Ruth Beckermanns Film zeigt eine Wiener Grundschullehrerin als allseits bereite Multitaskingmaschine. Die Utopie eines Herrn Bachmann bleibt aus.

Die Reihenfolge der nächsten Schritte ist schon von außen vorgegeben, als Lehrerin Ilkay Idiskut zur Zumba-Einheit ansetzt. Zuerst die zweite, die dritte, dann die vierte Klasse, danach wird die Versetzung auf die weiterführende Schule kommen, wenn denn alles gut läuft bei Selin, Alper, Danilo und den anderen Kindern. Auf dem Weg dahin heißt es für sie: die Hände in die Luft werfen, sich immer schön im Unterricht melden, bei Hindernissen zur Seite sliden, den nächsten Schritt nach vorne wagen, obwohl’s bei der letzten Abfrage in Mathe vielleicht nicht so geklappt hat wie gedacht. Sich aber nicht von Fehlern entmutigen lassen. Durchatmen, lockermachen, von vorne beginnen. Den Takt wiederfinden, auch wenn das kurz dauern mag. Üben, sliden, wieder einsteigen, weitertanzen. Bring it, bring it back, back, wie es im Song heißt, zu dem sich die Schüler*innen in Ruth Beckermanns neuem Film durch den Klassenraum als Gesellschaft im Miniaturformat bewegen.

Eine Multitaskingmaschine

Favoriten heißt der Dokumentarfilm, wie der 10. Wiener Gemeindebezirk, in dem sich die Volksschule befindet, an der Frau Idiskut arbeitet und zu der eine der Schüler*innen morgens nie alleine laufen darf, weil ihr Vater das verbietet. Die Straßen seien zu unsicher im Viertel. Denkt er. Sagt er einmal auch in der Elternsprechstunde zur Klassenlehrerin, die genauso wie die Kamera von Johannes Hammel aufmerksam mitschneidet, dass die Tochter das anders sieht. Über drei Jahre werden die Kinder in Favoriten begleitet, und über diese Dauer ist ein Verständnis für das Gesicht des einen Mädchens gewachsen, das selber bestimmen möchte, wie sie in die Schule kommt, mehr will, als es Papa zulässt, und sich still fragt, wie es die eigenen Wünsche argumentativ durchboxen könnte.

Unterstützung dafür findet es natürlich bei Frau Idiskut. Favoriten zeigt sie als allseits bereite Multitaskingmaschine. Eine Wissensvermittlerin, Mediatorin, Trösterin, Richterin, dance instructor, geduldige Nachfragerin und Motivationstrainerin ist diese Ilkay Idiskut, gut situiert, in Österreich angekommen, der Ehemann arbeitet bei der Polizei. Gelegentlich muss noch ein Auftritt als Übersetzerin her, wenn es zum Streitschlichten das Türkisch braucht, obwohl die Kinder ja dazu angehalten sind, hier Deutsch miteinander zu sprechen, teils anders als zu Hause. Die Sozialarbeiterin und die Schulpsychologin fallen gerade aus, wird auf der Mitarbeiter*innenversammlung verkündet. Die Belastungen des Lehrer*innenberufs laufen von Anfang an mit im Film.

Warten auf die Utopie

An Rhythmus ist der neue Film von Ruth Beckermann interessiert und an der Anstrengung für alle Beteiligten, ihn in gewisser Weise zu halten, mitzukommen bei einer Geschwindigkeit, die doch andere bestimmt haben, während ein eigenes Tempo gefunden werden will. Wer ein „erstaunlich heiteres Porträt“ erwartet, wie es der Berlinale-Ankündigungstext verspricht, kann bei Beckermann nur enttäuscht werden. Denn anders als in Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse (2021) gibt es sie in diesem Fall nicht, die vielen Fluchten, in denen ein Mann mit Strickmütze und AC/DC-Shirt einfach mal die Klampfe rausholt und altachtundsechzigerig ein wenig Jolene mit Jugendlichen trällert, weil’s zusammen halt so schön ist.

Die Empowerment-Rhetorik bleibt aus, wenn die Kinder von Berufen wie Feuerwehrfrau oder Arzt träumen. In Favoriten fehlt die Bachmann’sche Utopie, im Wiener Klassenzimmer herrschen andere Probleme. Während der Lehrer bei Speth von den wenn auch bloß ein paar Jahre älteren Schüler*innen in der sechsten Klasse Positionierung einfordern kann, muss sich bei Beckermann erst ein Sprechen finden, eine Meinung und eine Stimme entwickeln, die sich zu dem Quatsch verhält, den die Eltern bei Facebook aufgeschnappt haben. „Woher hast du das?“, das muss Lehrerin Idiskut fragen, um sich wiederholt mit der Autorität, die sie im Klassenraum genießt, gegen die fake news zu wenden.

Beim Faktencheck

In den kleinen Köpfen zirkuliert all das normative Zeug, das diese Gesellschaft bestimmt – und auch die Schule als Disziplinaranstalt produziert fleißig bestimmte Vorstellungen mit, so zeigt es Favoriten auf, zum Beispiel bei einer Zeichenaufgabe, deren Kriterien ziemlich eindeutig vorgeben, wie denn ein durchschnittlicher menschlicher Körper auszusehen hat. Zu dieser kritischen Perspektive auf eine Institution passt die unbedingte, völlig frustrierende Ehrlichkeit von Favoriten über das System, in dem jene Kinder stecken, wo sie ob ihrer Herkünfte schlechtere Chancen haben werden als die Leas, Sophies und Claras dieser Welt, so sehr sich Frau Idiskut auch einsetzen wird.

Aus einem pinken Mäppchen mit Schmetterlingen drauf wird fix eine Wand gebaut, damit der Sitznachbar bloß nicht abschreibt. Einschlägige, bestens einstudierte Kommunikationsstrategien im Fall von Konflikten („Wer hat angefangen?“, „Wer lügt?“, „Was hast du gesehen?“) lassen sich in Beckermanns Film ebenso beobachten wie die Typen, die eine handelsübliche Grundschulphase inklusive ihres Genderings prägen (die Streberin, der Provokateur, die Neue, die Stille mit der Brille, die Petze, der Zuspätkommer, der Klassenclown, die Mutige, die keinen Bock mehr hat, in der Pause von den Jungs am Po angefasst zu werden, und sich endlich wehrt).

Abseits des Frontalunterrichts

Es ist dabei zu jeder Zeit klar, dass bestimmte Erfahrungswelten nun mal Selen, Teodora, Fatima und Hafsa vorbehalten sind mit ihren gefährdeten, von strukturellem Rassismus betroffenen Körpern, so sehr Favoriten auf den ersten Blick dazu einlädt, sich an die eigene Schulzeit zu erinnern und sich möglicherweise in einzelnen Schüler*innen wiederzuerkennen. Weil der Film um Letzteres weiß, gibt Beckermann den Kindern schließlich Kameras an die Hand, Smartphones, mit denen sie sich selbst in Szene setzen und über das eigene Bild entscheiden können.

In den Bereich des Familiären drängt die Regisseurin unter Zuhilfenahme dieser Aufnahmen nur gelegentlich, konzentriert sich stärker auf das, was auf dem Schulgelände passiert und in der Stadt, durch die die Schüler*innen schlendern, um die leckersten Erdbeeren abzugreifen. Gruppenarbeit möchte Beckermann betreiben, keinen Film über die 3e, sondern einen mit den Menschen machen, die die Klasse besuchen. Per Smartphone entwickeln sich ebenfalls liebevolle, witzige Gesprächssituationen abseits des Frontalunterrichts, innerhalb derer sich die Kinder gegenseitig befragen und an Definitionen versuchen. Da entbrennen in Favoriten die allerwichtigsten Diskussionen: Kulturbegriffe werden ausgetauscht („etwas, was man macht, aber nicht so oft“), oder es wird zwischen Gott und Mutter entschieden.

Nachsitzen

Und dann ist Frau Idiskut plötzlich schwanger. Ein Schüler hat es letztens schon gemerkt, aber wie versprochen dichtgehalten, damit sie es der Klasse persönlich sagen kann. Der Mutterschutz wird bald beginnen, die nächste Lehrperson ist noch nicht gefunden (drei Tage später dann, wird im Anschluss eine Texttafel verraten). Aber für den Moment ist der Abschied von Frau Idiskut bei gleichzeitiger Freude über ein kommendes Kind das stärkste Gefühl, dass dieser Film und diese Schulklasse miteinander teilen werden, sodass sie sich in dieser Szene nur gegenseitig halten und fest umarmen können, wie es sich für ein richtiges letztes Mal gehört. Keinen Trost spendet dieser Film für diejenigen, die darauf hoffen, aber ein wenig Wärme im Angesicht dessen, wie hier auf unterschiedliche Weisen gekämpft wird für bessere Zukünfte. Beiläufigkeit macht Favoriten aus, eine Haltung, mit der Beckermann Herausforderungen wie Veränderungen erzählt.

Seinen aufmerksamen Zuschauer*innen schenkt dieser Film eine Doppelstunde der kostbaren Augenblicke, die zum Nachsitzen einladen, um länger mit ihnen Zeit zu verbringen: wie der Wasserkreislauf nochmal genau funktioniert und ab wann eine Überschrift auf dem Plakat vom Referat einfach echt zu klein geschrieben ist; wie eine aufrichtige Entschuldigung aussieht; welche Zahlen ineinander verliebt sein können und welche nicht; welche Gebete Mohammed alle auswendig kann; wie Nerjiss mit den rosa gefärbten Haarsträhnen aus den Sommerferien zurückkommt; dass ein Trip zum McDonalds halt immer noch aufregender ist als jeder Stephansdom, wem auch immer er gemäß dem Priester gehören mag; und dass die future eben ganz klar female ist, zumindest den Sprüchen zufolge, die auf den T-Shirts der Mädchen geschrieben stehen.

„Hauptsache, du hast keinen Fünfer“, sagt Beckermann aufmunternd zu einem der Kinder, als die Zeugnisse verteilt sind und über die Noten geweint wird. Und: „Du bist so viel besser geworden.“ Das Lob der Filmemacherin hilft nichts. Es ist trotzdem lieb gemeint.

Neue Kritiken

Trailer zu „Favoriten“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare


Carol

Brillante Kritik, vielen Dank! Und ja, der Vergleich mit dem unvergesslichen Herrn Bachmann drängte sich auf - doch die Schulsituation ist natürlich inzwischen noch prekärer als vor der Pandemie. Hut ab vor der Leistung der Klassenlehrerin, wie sie den Laden zusammenhält und bei all dem strukturellen Mangel (zu wenig Lehrkräfte, zu große Lerngruppen) das menschlich Mögliche herausholt.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.