Fall – Kritik

VoD: Zwei Frauen, ein 600 Meter hoher Funkturm, eine Urangst. Intensiver als in Fall lässt sich beim bloßen Zuschauen kaum erfahren, was es heißt, existenziell an die Höhe ausgeliefert zu sein.

Eine der bekanntesten Szenen Hitchcocks zeigt einen Mann mitten im Nirgendwo. Umgeben ist er von einem weiten, gut einsehbaren Flachland. Und wir wissen, dass dort jemand einen Anschlag auf sein Leben verüben wird. Die Frage, die Hitchcocks Spieltrieb weckt, ist nun, von wo aus dieses Unterfangen denn unternommen werden soll. Ein Auto kommt, ein anderer Mann steigt aus, sie stehen sich gegenüber und taxieren sich: Der Spannungsaufbau wird in Der unsichtbare Dritte (North by Northwest, 1959) genüsslich zelebriert – nur um doch die Anspannung in sich zusammenfallen zu lassen. Bis der Mörder dann schließlich an unerwarteter Stelle auftaucht.

Sturz ins Bodenlose

Das Prinzip dieser Szene wird in Fall nun auf den gesamten Film ausgeweitet. Zwei Freundinnen (Grace Caroline Currey als Becky und Virginia Gardner als Hunter) klettern einen 600 Meter hohen Funkturm hinauf. Er steht mitten in einer weiten Wüste und ist die ungefähr letzten hundert Meter dann auch noch so dünn, dass er von den Freeclimberinnen fast umfasst werden kann. Und an der Spitze dieser gigantischen Nadel geschieht das, worauf eben hingearbeitet wurde: Die maroden Leitern unmittelbar unterhalb der finalen Plattform brechen ab, und die beiden Frauen sitzen fest. Sie haben gerade genug Platz auf dem Stahlgitter, bis das sie umgebende Nichts beginnt, das einen Sturz ins Bodenlose verspricht. Und so kostet der Film es aus, wie die diversen Rettungsversuche Spannung und Hoffnung erst wachsen und dann verpuffen lassen.

Zwei Frauen, eine ausweglose Situation, eine filmisch nutzbar gemachte Urangst, ein Trauma, das es zu bewältigen gilt: Das Prinzip ist nicht nur einfach, sondern ziemlich unverschämt von 47 Meters Down (2017) entliehen. Wobei Becky in Fall nicht nur eine Trennung verarbeiten muss, sondern den tödlichen Sturz ihres Ehemanns, den sie vor einem Jahr mitansehen musste. Und auch in diesem Film bringt die andere ihre Freundin dazu, sich ihren Dämonen zu stellen, statt der Todessehnsucht nachzugeben. Nur wird der Ort der Auslieferung in Fall gegenüber dem Vorgänger vertikal gespiegelt. Statt in der Tiefe des Meeres sitzen unsere Protagonistinnen nun in unfassbarer Höhe fest.

Kurzes Geplänkel mit Geiern

47 Meters Down reichert seiner Grundsituation mit blutrünstigen Haien an, die im trüben Wasser lauern, dazu mit dem Problem der Dekompressionskrankheit, die einen ereilt, wenn man zu schnell auftaucht. Fall stehen, abgesehen von einem kurzen Geplänkel mit Geiern, solche Nebenkampfschauplätze nicht zur Verfügung. Einerseits braucht der Film auch nicht mehr, andererseits macht sich diese Beschränkung doch zunehmend bemerkbar.

Regisseur Scott Mann weiß seinen Handlungsort zu inszenieren. Fall ist durchzogen von Blicken in die Tiefe, von der leeren Weite, die direkt im Anschluss an die handelnden Figuren beginnt. Der klapperdürre Turm wirkt nicht nur wegen seines wiederholt ins Bild gesetzten maroden Zustands, als würde er gleich umknicken, sondern weil das Verhältnis von Höhe und Dünne absurd ist. Es scheint unwirklich, dass er überhaupt stehen bleibt, geschweige denn sicheres Obdach gewähren könnte.

So wird äußerst effektiv vermittelt, was es heißt, existenziell an die Höhe ausgeliefert zu sein. Selbst wenn sich hier und da, etwa beim Anblick abstürzender Schuhe, das CGI der Location verrät und sich die Illusion damit schwächen müsste, selbst wenn der Film äußerst limitiert bleibt: Sein Kreisen um den Turm, sein Blickwinkel in die Tiefe und die Umgebung sind ein physisches Vergnügen, setzen nicht nur auf die Urangst, sondern kosten sie regelrecht aus. Angstgefühle sind selbstredend subjektiv, aber doch gibt es kaum bessere Filme als Fall, um jemanden Höhenangst zu vermitteln, der in einem sicheren Sessel sitzt.

Kammerspiel auf kleinem Raum

Andererseits nutzt sich der Effekt nach und nach etwas ab. Nicht weil mit fortschreitender Laufzeit zwangsläufig Gewöhnung einsetzen würde, sondern weil die knapp zwei Stunden gefüllt werden möchten und sich zunehmend dem Drama zwischen den beiden Freundinnen und Beckys Selbstzermürbung widmen. Je mehr also das aktuelle Trauma zum Spiegel des vorangegangenen wird, desto mehr verschwinden die Tiefe und die Weite aus den Bildern, desto mehr wird Fall zum Kammerspiel auf kleinem Raum. Womit er seiner größten Qualität beraubt wird.

Aber eben nur ein wenig. Fall wird sicherlich nicht die ikonische Wirkung von Der unsichtbare Dritte entfalten, und doch ist das Kunststück der Ausdehnung eines kleinen Prinzips auf einen großen Raum größtenteils gelungen. Ohne große Schnörkel erreicht er einen direkten Effekt. Mitten in der uns umgebenden Phalanx aus Bombast und ausgesuchter Schlichtheit, die das Kino derzeit beherrscht, sticht er hervor. Weil er auf große Konzepte verzichtet, auf große künstlerische Effekte oder den Rückzug ins Private, sondern nach einfachen Bildern sucht, die uns packen, als wären wir direkt involviert.

Der Film steht bis zum 17.10.2024 in der ZDF-Mediathek.

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