Escape from Tomorrow – Kritik
Guerilla-Filmmaking im Familienidyll: Randy Moore dreht heimlich den ersten Disney-Horrorfilm.

Escape from Tomorrow war der große Geheimtipp des Sundance Film Festivals 2013. Grund dafür waren wohl vor allem die außergewöhnlichen Produktionsumstände: Randy Moore realisierte sein Regiedebüt mit Hilfe des sogenannten Guerilla-Filmmaking. Ein wesentlicher Teil der Dreharbeiten wurde „on location“ aufgenommen, direkt in den Vergnügungsparks Disneyland, Kalifornien und Disneyworld, Florida. Das Fehlen einer offiziellen Drehgenehmigung stellte für Moore und sein Team kein Problem dar. Ihre Drehtätigkeit, die sie unauffällig mit kleinen Handkameras vornahmen, wie sie mittlerweile jeder Tourist besitzt, fiel in der Masse nicht weiter auf. So wurden einige eher gewöhnliche Szenen komplett vor Ort abgedreht, andere Aufsehen erregende Szenen entstanden nachträglich im Studio, wo die Kulisse der Vergnügungsparks als Bildhintergrund für das digital eingefügte Treiben der Protagonisten diente. Um technische Perfektion ist Moore hier keineswegs bemüht, die digitalen Nahtstellen sind meist recht deutlich erkennbar. Wohlwollend kann man sie als eine Art Independent-Charme verbuchen. Interessanter sind die On-Location-Irritationen, wenn man kurz verwunderte Reaktionen unwissender Parkbesucher auf das Verhalten der nicht als solche erkannten Schauspieler erhaschen kann – etwa wenn der Protagonist und sein Sohn aufgrund einer auf der Tonspur künstlich eingefügten Ansage über eine ausfallbedingte Schließung des Buzz-Lightyear-Rides kurz vor dem Ziel plötzlich aus der Schlange ausscheren.
Abrechnung mit der disneyschen Familienfreundlichkeit

Dass Moore auch nie eine Drehgenehmigung bekommen hätte, leuchtet mit Blick auf den Plot mehr als ein. Die Handlung von Escape from Tomorrow gibt sich wirr und verschlungen, changiert ohne deutliche Markierungen zwischen dem innerdiegetisch wirklichem Geschehen und subjektiven Wahnsequenzen und lässt kaum eindeutige Lesarten zu. Eines ist jedoch klar: Moores Debüt ist eine ziemlich gnadenlose Abrechnung mit dem Konzept der Familienfreundlichkeit, für das der Disney-Konzern zuallererst steht. Das zeigt bereits die formale Entscheidung, den Film ausschließlich in Schwarz-Weiß zu halten. Allein schon die Absenz all der bunten Farbtupfer macht es einem schwer, den angeblich „fröhlichsten Ort der Welt“ als solchen wahrzunehmen. Die Protagonisten stehen zunächst für das typische Disney-Klientel: Vater, Mutter, Junge, Mädchen. Am Morgen des letzten Tages eines als harmonisch angedachten Familienausflugs wird Vater Jim (Roy Abramsohn) per Anruf die sofortige Kündigung mitgeteilt. Diese zukünftige Einschränkung seiner Versorgerqualitäten – der erste Schritt zur Dekonstruktion des Familienidylls – verschweigt er jedoch, um den Tag ausgiebig genießen zu können. Jim macht allerdings schnell eine ganz eigene Quelle des Genusses aus. Anstatt auf das eigentliche Parkangebot und die familiäre „quality time“ konzentriert er sich lieber darauf, zwei jungen Französinnen nachzustellen. Im weiteren Verlauf wandelt sich jedoch nicht nur Jims Aufenthalt in Disneyworld, sondern gleich der ganze Film zu einem infernalisch-psychedelischen Horrortrip.
Die Entdisneyfizierung von Disneyworld

Moores Darstellung des Vergnügungsparks könnte man wohl als Entdisneyfizierung bezeichnen: Der penetrant fröhliche Familienort wird zum Schauplatz des Schreckens umkodiert. An sich ist diese Idee in Ansätzen nicht so neu: Dass sich die Gesichter der an den Ufern eines Boatrides aufgestellten Animatronics in diabolische Fratzen verwandeln, konnte man schon vor zwanzig Jahren bei den Simpsons und ihrer Disneylandparodie „Duff Gardens“ mit ansehen. Ein weiteres Element – selbstständig agierende Roboter in Menschengestalt – findet sich in Westworld (1973) und damit sogar nochmal zwanzig Jahre früher. So radikal, provokant, ja so deutlich jenseits der Grenzen des guten Geschmacks wie Moore traute sich jedoch noch niemand, das Flaggschiff amerikanischer Unterhaltungskultur aufs Korn zu nehmen. Vieles von dem, was im friedliebenden Disneykosmos undenkbar bis schlichtweg nicht existent ist, schlägt sich hier – mitunter explizit ins Bild gesetzt – seine Bahn: Wahnsinn und Wollust, Prostitution und schneller Sex, Blut, Erbrochenes, Exkremente und sogar eine sinnbildliche Ejakulation.
Assoziationen mit Filmen von David Lynch oder Roman Polanski – wie sie in der US-amerikanischen Rezeption des Films häufig genannt wurden – sind aufgrund der verstörenden Wirkung und des fiebertraumhaften Surrealismus von Escape from Tomorrow durchaus nachzuvollziehen. Dennoch hinkt ein solcher Vergleich etwas. Moore liefert mit seinem Werk ein durch Eigenständigkeit und Garstigkeit beeindruckendes Beispiel aktueller Möglichkeiten des Independent-Kinos. Mit ernst gemeinter Filmkunst hat es aber doch eher wenig zu tun, sein Film ist deutlich in den Gefilden des Trash angesiedelt. So besteht die Leistung von Roy Abramsohn als Vater Jim, dem beständigen Fluchtpunkt der kruden Geschichte, vornehmlich in wildem, überzogenem Gestikulieren und Grimassenschneiden.
Ein Skandal ohne Empörung?

Vor dem ersten Screening in Sundance 2013 wurden sämtliche Hintergründe zu Escape from Tomorrow noch möglichst geheim gehalten, um eine potenzielle Untersagung der Aufführung durch Disney zu vermeiden. Aber selbst nachdem mittlerweile die ganze Welt über Moores Dreistigkeit Bescheid weiß, hat der Konzern erstaunlicherweise bisher nichts von einem angestrebten Prozess verlauten lassen. Stattdessen beschloss Disney, die ganze Sache einfach zu ignorieren. Ob sich Moore darüber freut oder sogar eher ärgert, ist nicht ganz klar. Schließlich hätte ihn ein Rechtsstreit zwar einiges gekostet, ihm aber auch nachhaltig weltweite Aufmerksamkeit eingebracht – als selbstbewussten Skandalisierer und Independent-David gegen den Unterhaltungsbusiness-Goliath Disney. Auf der offiziellen Homepage zum Film jedenfalls rotiert beständig ein Ticker, der sekundengenau die Zeit ohne Klage seit der Veröffentlichung zählt. Moore hat die Sorge – oder die Hoffnung – also noch nicht aufgegeben.
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