Doctor Strange in the Multiverse of Madness – Kritik
Doctor Strange ist die perfekte Figur für Sam Raimis Rückkehr. Trotz einiger Kompromisse macht der Regisseur aus dem sonst so sterilen Marvel-Universum eine Welt, in der Lebewesen leben, atmen und verwesen.

In der ersten Phase des Marvel Cinematic Universe gab es noch Ausreißer. Thor (2011) mit seinen schrägen Einstellungen und seiner Königshofoper oder Captain America: The First Avenger (2011) mit seiner an Comics orientierten Optik und dem uneingeschränkten Glauben ans Gute trugen sichtlich die Handschrift unterschiedlicher Autoren – Regie: Kenneth Branagh beziehungsweise Joe Johnston. Danach setzte sich zunehmend ein Hausstil durch, bei dem sich jemand wie James Gunn (Guardians of the Galaxy, 2014; Guardians of the Galaxy Vol. 2, 2017) höchstens kenntlich machen konnte, indem er den Bildern mit einem liebevoll kuratierten Soundtrack etwas eigene Identität mitgab. Die Filme gleichen einander viel mehr, als dass sie sich unterschieden – gerade im Vergleich zu den Grabenkämpfen und Richtungswechseln, die sich in die unterschiedlichen Teile der letzten Star Wars-Trilogie oder bei DC so deutlich einschrieben.
Zelebrierter Schiffbruch

Beim inzwischen 28. Film – mitten in der vierten Phase – wurde die Regie für Doctor Strange in the Multiverse of Madness (2022) an Sam Raimi übergeben. War die Wahl von Chloé Zhao, einer jungen, oscarprämierten Filmemacherin stiller Indiedramen, für den Regiestuhl von The Eternals (2021) schon interessant, war Raimi nicht nur eine naheliegende, sondern auch eine kaum auszurechnende Wahl. Naheliegend, weil sein Spider-Man (2002) den Boom der Comicverfilmungen mit lostrat – aber auch, weil er nach dem Einstampfen des vierten Spider-Man-Films und seiner danach stockenden Karriere noch eine Rechnung offen haben dürfte. Kaum auszurechnen, weil seine Filme seit Tanz der Teufel (The Evil Dead, 1981), egal wie groß angelegt die Produktionen waren, von niemand anderem sein konnten als von ihrem stilprägenden Regisseur. Die Frage im Vorfeld von Doctor Strange in the Multiverse of Madness war also, wie viel von Raimi darin zu finden sein würde.

Dr. Strange ist schon einmal die perfekte Figur für Raimis Rückkehr. Wie Ash, die Hauptfigur der The Evil Dead-Filme, die den Regisseur berühmt machten, ist er ein selbstverliebter, großmäuliger Bruder Leichtfuß – nur dass bei dem virtuosen Chirurgen und Magier tatsächlich etwas hinter der großen Klappe steckt. Und beide dürfen für eine abschließende Erlösung einen Schiffbruch erleiden, den Raimi förmlich zelebriert. Das titelgebende Multiverse of Madness besteht folglich aus Ruinen und verbrannten Welten, die Dr. Strange und pervertierte Versionen seiner selbst hinterließen. Der Film ist ein Tempel seiner Zweifel und seiner Reue.
Korruption der Allmacht

Zentraler Gegenspieler ist Wanda (Elizabeth Olsen). Aufgrund Dr. Stranges Entscheidungen im Kampf gegen Thanos hat sie ihre Kinder verloren und sich darauf von den Avengers abgewandt. Nun wird sie zur Scarlet Witch, die einen Weg in eine andere Realität sucht, in dem ihre Kinder noch leben. Um wieder Mutter ihrer Söhne zu werden, nimmt sie aber allerlei in Kauf: dass sie ihr Ich aus dem Paralleluniversum loswerden muss, dass auf den Weg dorthin unzählige Menschen (und Ähnliches) zu töten sind, dass sie ihre Seele an ein dämonisches Buch verliert, dass nicht nur die Welt in Flammen aufgeht, sondern alle Universen einem immer größeren Hunger nach Vergeltung zu Opfer fallen.

Es ist aber nicht nur diese Materialisierung von Dr. Stranges schlechtem Gewissen, die in der Handlung das Problem darstellt. So steckt die Korruption der Allmacht nicht nur in Wanda, sie findet sich auch in den Dr. Stranges der anderen Universen. Die Erkenntnis, die ihn gleich zu Beginn aus dem Bett schrecken lässt, ist die Vision seiner selbst, die meint, nur einen Weg zu kennen und dafür America Chavez (Xochitl Gomez), eine orientierungslose Teenagerin, die durch Universen springen kann und die ihm vertraut, umbringt. Und jeder Dr. Strange, den er auf seiner Flucht mit dem Mädchen durch die Paralleluniversen trifft, führt ihm seine eigene Arroganz und Selbstüberschätzung vor Augen.

Ganz auf seine rasenden Höhen wird Sam Raimi beim Springen durch ein sehr überschaubares Multiversum zwar nicht kommen, aber doch hat er sich ein wenig in diesen Teil des MCU einschreiben können. Bruce Campbell, sein Freund und Stammschauspieler, hat einen kleinen Auftritt als Pizzaverkäufer. Einige Ideen wie ein Bösewicht, der einen Mund zum unpassendsten Moment verschwinden lässt, werden recycelt. Und Dr. Strange wird als verrottender Kadaver in den Endkampf ziehen. Am Ende fühlt sich Doctor Strange in the Multiverse of Madness aber schon wie ein Kompromiss zwischen MCU und den Sensibilitäten seines Regisseurs an.
Die Handlung springt von Ruine zu Ruine

Trotz alledem ist es aber wohl doch Verdienst Raimis, dass dieser Eintrag einer der besten der Reihe geworden ist. Nicht so sehr, weil die ironischen Metawitze über das MCU im Speziellen und Superhelden im Allgemeinen eben sitzen, weil die Geschichte ziemlich konzentriert ist, weil die Actionsequenzen alles andere als unansehnlich sind oder weil es eine wunderbare Chemie gibt zwischen Raimis lustvoller Dekonstruktion seiner Hauptfigur und Benedict Cumberbatchs Darbietung eines Snobs, der hinter witzelnder Herablassung seine eigene Verletzlichkeit zu verstecken sucht.

Es ist viel basaler. So bebt einmal der Boden, und wir sehen einen Teller mit Essensresten, auf dem nun ein, zwei Erbsen rollen. Mit solchen Details vermittelt Doctor Strange in the Multiverse of Madness, dass er nicht nur eine abstrakte Geschichte ist, sondern dass hier Lebewesen leben und atmen – oder verwesen. Das Sterile des MCU schafft Raimi eben zu brechen. Statt identitätslose Nichtwelten abzugrasen – wir erinnern uns an das nichtssagende Grau des Aufenthaltsorts der Supreme Intelligence in Captain Marvel (2019) oder das unansehnliche, ebenso graue Nichts, vor dem die Figuren in Spider-Man: No Way Home (2022) ständig ihren Text aufsagen dürfen –, springt die Handlung von Ruine zu Ruine. Verfallene Tempel, Universen, Körper, Wohnräume und auch sterile Paläste der eigenen Ignoranz: Überall spiegeln sich Persönlichkeiten auch im Bild, Persönlichkeiten und ihre Niederlagen, und erzählen uns mehr als nur die Schauspieler und die rumpelige Betriebsamkeit, die im MCU sonst alles bestimmen.
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