Die Möllner Briefe – Kritik

Dreißig Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag von Mölln erreichen damalige Briefe der Anteilnahme erstmals die Angehörigen der Opfer. Die Möllner Briefe begleitet die Betroffenen auf dem Weg des Erinnerns und wird dabei selbst zu einem Dokument der Solidarität.

Mölln. Eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Über 120 km sind es bis Rostock-Lichtenhagen, mehr als 400 km bis Hoyerswerda. Aber die Entfernung zwischen diesen Orten ist nicht allein in Kilometer zu fassen, da sie nicht einfach nur geografische Punkte sind, nicht bloße Namen auf einer Landkarte. So wie Solingen oder Hanau, stehen diese Städte für rechtsextreme, rassistisch motivierte Anschläge der jüngeren deutschen Vergangenheit.

Ein Ortsname kann als Schlagwort die Erinnerung an die damaligen Ereignisse aufrufen. Mit ihm lässt sich diese Erinnerung aber auch ablegen und katalogisieren, so wie jene bewegenden, in einem Stadtarchiv eingelagerten Zeitdokumente, die Martina Priessners Dokumentarfilm nüchtern und sachlich in seinem Titel führt: die Möllner Briefe.

Eine wechselnde Anrede der Toten und der Lebenden

Von den Anschlägen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen ist spät im Film die Rede, nachdem eine Frau den Brief vorliest, den sie, eine jüdische Mutter, nach dem Mordanschlag vom 23. November 1992 an die Angehörigen der Opfer verschickt hat. Damals waren zwei Häuser in Mölln angezündet worden. İbrahim Arslan überlebte als 7-jähriger den Brand. Seine Großmutter, Bahide Arslan, seine Schwester, Yeliz Arslan, und seine Cousine, Ayşe Yilmaz, starben in dem Haus in der Mühlenstraße.

Dicht ist die Kamera am Hinterkopf von İbrahim Arslan, bevor ein langsamer Schwenk aus der Unschärfe die Vorlesende in den Blick nimmt. Die zwei vom Rassismus Betroffenen sitzen sich an einem Tisch gegenüber. In dem poetischen Brief mit dem Titel „Die Tränen von Mölln“ ist eine kleine unbekannte Schwester, kız kardeş, angesprochen, die das lyrische Ich als die eigene kleine Tochter in den Flammen verloren hat. Es ist eine wechselnde Anrede der Toten und Lebenden, eine Solidaritätsbekundung aus der Vergangenheit, die nun in der Gegenwart Gemeinschaft herstellt.

Ein Moment, der Kraft gibt, aber auch schmerzhaft ist. Denn dieser Brief ist nur einer von vielen hundert anteilnehmenden Briefen aus dem ganzen Land, die vor 30 Jahren niemals die Angehörigen der Opfer von Mölln erreicht haben und stattdessen direkt ins Stadtarchiv gewandert sind. Erst vor wenigen Jahren fand eine Studentin sie zufällig bei einer Recherche. Einige von ihnen sind nun in Priessners Film zu sehen: hervorgehobene Passagen auf hand- oder maschinengeschriebenen Seiten, Kinderzeichnungen, Postkarten. Die (sprachliche) Adressierung der Briefe ist gleichermaßen komplex wie einfach: Sie sind Ausdruck einer Öffentlichkeit, die Anteilnahme bekundet, aber zugleich sind es persönliche Äußerungen an die Familien der Anschlagsopfer.

Mit vergeblicher Bitte um Weiterleitung

Wem gehören die Briefe? İbrahim Arslan, der kein Statist bei der jährlichen Gedenkveranstaltung der Stadt Mölln sein möchte und seit vielen Jahren eine „Möllner Rede im Exil“ unter dem Motto reclaim and remember organisiert, engagiert sich für die Übergabe dieser Briefe an deren ursprüngliche Adressaten. Priessners Film solidarisiert sich mit Ibrahim, der energisch den offiziellen Ausflüchten und willentlichen Verzögerungen entgegentritt: Etwa wenn der neue Bürgermeister von Mölln, der durch Zusammenarbeit mit den Betroffenen immerhin einen anderen Weg als seine Vorgänger einschlagen möchte, eloquent um Verständnis der damaligen Lage wirbt. Oder wenn beim stillen Stadtarchivar, der über all die Jahre der gleiche geblieben ist, plötzlich noch weitere Briefe auftauchen, die damals einbehalten wurden.

In Großaufnahme zeigt Priessner die Zeilen mit der Bitte um Weiterleitung an die Angehörigen der Ermordeten. Mehrfach steht die Familie Arslan als Empfänger auf den Briefkuverts. Die angegebene Adresse ist oft unvollständig und vage – aber wo lebt schließlich eine Familie, deren Haus zerstört wurde? (Es gehört auch zu ihrer Geschichte, dass die Arslans einige Jahre später wieder in das Haus in der Mühlenstraße einziehen mussten, weil keine andere Wohnungsmöglichkeit für sie gefunden wurde.)

Die Last des Erinnerns und des Bewahrens

İbrahim ist rastlos, stets scheint er unterwegs zu sein: er fährt zu Terminen nach Mölln oder er trifft zwei Frauen, die als Kinder ebenfalls Briefe nach Mölln geschickt haben. Er kann einen wiederkehrenden Husten vor allem dadurch lindern, dass er vor Schulklassen spricht und seine Erfahrungen vermittelt. Seine nach dem Anschlag geborene Schwester Yeliz lebt hingegen unter dem Druck, den Namen ihrer verstorbenen Schwester zu tragen. Und sein jüngerer, übergewichtiger Bruder Namık, der sich den Magen verkleinern lässt, trägt die Last der Vergangenheit buchstäblich am Körper.

Die Szene, in der Namık sich das brennende Haus von Mölln auf den linken Oberarm tätowieren lässt, steht im Kontrast zum vorherigen Moment, in dem seine Mutter Havva Erinnerungsgegenstände ihrer toten Tochter hervorholt und dabei zu weinen beginnt. Vielleicht solltest Du sie abgeben, sagt er zu ihr. Es ist ein extrem bewegender Moment, wenn Havva die Andenken an Yeliz dann tatsächlich dem DOMiD, dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland in Köln, übergibt. Den eigenen Umgang mit Fragen des Bewahrens und des Erinnerns zu finden, ist nicht einfach. Mehrmals zeigt Priessners Film, wie Hände in weißen Handschuhen feinsäuberlich Erinnerungsobjekte vermessen, das eine Mal im Möllner Stadtarchiv, das andere Mal im DOMiD. Doch nur einmal wird Havva in den Arm genommen.

Das erste und das letzte Wort

Solidarität entwickelt sich auch zwischen den ehemaligen Bewohnern der Mühlenstraße und der Ratzeburger Straße, wo 1992 das erste Haus in Brand gesetzt wurde, jedoch keine Menschen ums Leben kamen. Mit klarer Haltung und voller Pathos zeigt der Film auf, wie schwierig es ist, beim gemeinsamen Gedenken keine Opferkonkurrenz entstehen zu lassen – und wie es dennoch gelingen kann.

Über die Jahre gab es eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen, die Einspruch gegen das deutsche Behördenversagen im Umgang mit den Betroffenen von rassistischen Gewalttaten erheben (etwa Marcin Wierzchowskis Das Deutsche Volk oder Philipp Scheffners Revision). Schon ihre schiere Anzahl macht traurig, erzeugt Wut und Empörung. Bei den Möllner Briefen handelt es sich um keinen Einzelfall. Aber jeder Fall beruht auf konkreter Erfahrung. Dass der Fokus von Martina Priessners Film ganz auf den Betroffenen liegt, ist seine Stärke. Er beginnt mit Havvas Erinnerung an die Nacht des Anschlags, noch bevor er mit einem Tagesschaubericht seinen Blick auf die zeitgenössische öffentliche Berichterstattung richtet. Den Angehörigen der Verstorbenen und Verletzten gehört hier das erste und das letzte Wort.

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