Die bauliche Maßnahme – Kritik
Nachdem in Homo Sapiens die Menschheit vollständig aus seinem Kino verschwunden war, vermisst der österreichische Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter in Die bauliche Maßnahme nun nicht nur die Weite der Landschaft in einer alpinen Grenzregion – sondern vor allem die politischen Befindlichkeiten der Anwohner.

Die Berge werden zu erdrückenden Giganten. Eine Nachtfahrt in die Südtiroler Alpen hinein kann Dimensionen verschieben. Das ist eine Gegend, in der sich Maßstäbe umwälzen, ein massiver, wuchtiger Ort. Eine Zäsur im Gelände. Mit den Menschen passiert etwas, wenn sie dort leben oder durch die Regionen dort schreiten, etwa entlang des Brennerpasses, wo die Felsen im Dunkeln erdrückend wie unberechenbare Kolosse wirken und im Sonnenlicht doch eine anrührende Hoffnung auf Größe und Weitblick wecken. Dieser Brennerpass ist Schauplatz von Nikolaus Geyrhalters Film Die bauliche Maßnahme, der gerade bei der Diagonale in Graz seine Uraufführung erlebte, ein Film, der nur selten jene Bedeutungsschwere der Landschaft offenbart, die sich bei einer Fahrt über die Grenze, zum Beispiel auf der Reise zur Diagonale, sofort erschließt. Und so lese ich in den Film ein Berggefühl hinein, das er womöglich gar nicht zu übertragen sucht.
Militär im Nichts

Und doch überträgt sich etwas, mindestens ein Sinn für Maßstäbe. Unten im Tal, zwischen den traditionsbeladenen Bergmassen – wo in naher Vergangenheit erst jüdische Flüchtlinge und dann Nazis nach Süden geschleust wurden –, beginnen die stromlinienförmigen Autobahnen kurviger zu werden und dünner, unscheinbarer. Alle fahren langsamer. Bald tauchen am Straßenrand kleine Orte auf und Geschäfte, wie etwa an einem Kreisverkehr, den Geyrhalter mehrmals zeigt. Hier liegt sie, ganz unmerklich: die Grenze zwischen Österreich und Italien. Kaum ist sie als Grenze zu erkennen, wäre da nicht ein ebenso unscheinbarer Panzer und zwei bewaffnete Soldaten positioniert. Die Gegenwart des Militärs wirkt ironisch in der statischen, langen Totale, die Geyrhalter als Blickweise wählt. Denn hier geschieht nichts. Keine Ströme von Menschen, keine Krisen, die unmittelbar vor der österreichischen Haustüre eskalieren. Nichts ist sichtbar.

Die bauliche Maßnahme erprobt die Dauer und Weite von Blicken, gleichermaßen über grüne Bergwiesen und weite Horizonte hinweg als auch in eng gebauten Gaststätten, wo aus der Ecke heraus zusammengestauchte Fernsehbilder von Migranten erzählen, die Grenzen überschreiten wollen und in Wohlstandsnationen wie Österreich Schutz und Zukunft suchen. Maßnahme: Der Begriff taugt hier erstens im Sinne der Maßstäbe, zur Vermessung eines Gegenwartsdenkens unter den politischen Bedingungen Österreichs. Andererseits spielt die Maßnahme mit Möglichkeiten und Androhungen von Handlungen: Mit den jüngsten Plänen der rechtskonservativen Parteipolitik in Österreich, die seit der Abriegelung von Flüchtlingsrouten auf dem Balkan Anfang 2016 Grenzzäune am Brennerpass errichten will, um Menschen den alternativen Einreiseweg nach Nordeuropa zu verwehren.
Klare Rhetorik verschwimmt

Geyrhalters Film zeigt die Leute aus der Umgebung bevorzugt in ihren Arbeitskontexten und damit in ihren funktionalen Bezügen zur Mechanik der Landesgrenze. Da sind die Förster, die am kleinen Zaun im Wald patrouillieren, oder die Frau an der Mautstelle, die maschinenartig die Menschen abkassiert, der Pfarrer von nebenan, die Grenzpolizei. Geyrhalter ist geduldig bei seinen Interviews, fragt so lange nach, bis Denkhaltungen zur Flüchtlingskrise entweder besonders klar und irritierend oder nach und nach wackelig und unscharf werden. Eine Hausfrau steht neben ihrer Tochter, sie spricht sich für Traditionen und gegen „Mischnationalitäten“ aus. Der Beamte an der provisorischen Grenzkontrollstelle schiebt mit unsicher-betroffenem Blick die Verantwortung für Abschiebe-Entscheidungen von sich weg. Wer angetroffen wird, geht zurück nach Italien. Dazu bedarf es aus seiner Perspektive keiner Diskussion. Der Mitarbeiter eines kleinen Betriebs beschwert sich mit beinahe rotem Kopf über den Flüchtlingsbegriff, fordert eine gesellschaftliche Bereitschaft zum Teilen und zu Gemeinschaftlichkeit. Dann sprechen Gastarbeiter über gegenseitigen Respekt und Religionsfreiheit.

Später schimmert dann tatsächlich ein unerwarteter Gemeinschaftssinn durch, Figuren tauchen wieder auf, und die einst klare Rhetorik verwischt zunehmend. Es scheint irgendwann, als spreche die erst fremdenfeindliche Nachbarin langsam das nach, was zuvor die Gastarbeiter sagten. Selbst die Wortwahl gleicht sich aufs Haar. Haben sie in ihr über zwei Jahre hinweg eine Einsicht und Offenheit wachgerufen? Oder ist es hier die Sprache, die über tatsächliche Befindlichkeiten hinwegtäuscht? Geyrhalter jongliert souverän mit Sprechweisen und Stereotypen, spielt sie gegeneinander aus, fällt Eindeutigkeiten ins Wort. Und das mitunter ganz wörtlich: Gleich zweimal schneidet er politische Redebeiträge in Fernsehübertragungen ab, interveniert gegen rhetorischen Populismus und Volksverhetzung. Das ist besonders markant im Fall des rechtskonservativen Sebastian Kurz, der sich mittlerweile zum ÖVP-Nachwuchskanzler aufgeschwungen hat und über seine Wahlkampfrhetorik von 2016 ein dankbares Ziel bietet. In einem Film, der sonst durchweg von unauffälligen Formentscheidungen geprägt ist, stechen diese Interventionen eindrucksvoll heraus.
Abstrakter Sinn für Gegenwärtiges

Der Interviewfilm erscheint daher nur im ersten Eindruck konventionell, spannt geschickte Aufmerksamkeitsbögen und spielt seine formalen Spitzen mit Bedacht aus. Geyrhalter vermisst mit seinem Sinn für Komposition konsequent die politischen Beziehungen innerhalb einer konkreten Anordnung von Menschen, erschließt sich darüber immer wieder Räume und Landschaften. Insbesondere nach seiner Ergründung von Orten ganz jenseits der Anwesenheit des Menschen in Homo Sapiens (2016) erscheinen hier die vielen Gesichter und ihre Ausdrücke besonders bedeutungsvoll und politisiert. Daneben stehen starre Blicke auf Straßenzüge, Schneegestöber und verloren herumstehende Soldaten. Diese Blicke scheinen das Ende des Menschen zu kennen und betrachten das Zivilisatorische aus einer kritischen Distanz. Totalen, die einer Suche nach einem abstrakten Sinn für Gegenwart und für das Gegenwärtige nicht weniger verschrieben scheinen als dem vordergründigen Kommentar auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Österreich.
Der Zaun liegt bereit
Angesichts des bestehenden politischen Kräftegleichgewichts im Land erscheint die Auszeichnung des Films mit dem Dokumentarfilmpreis wenig überraschend und sinnhaft. Es bleibt die Frage, inwiefern Die bauliche Maßnahme in den kommenden Monaten durch Geyrhalters Werkszusammenhang eine weiterreichende gesellschaftspolitische Durchschlagskraft erfahren kann, oder ob er letztlich doch unbemerkt bleibt.

Der geplante Zaun liegt am Brennerpass übrigens noch immer bereit, unsichtbar in Containern verborgen. Regelmäßig überprüfen Grenzbeamte den Zustand des Materials, und dort schließt dann auch der Film: bei der durchnummerierten Tür des Zaun-Containers. Nach den vielen komplizierten Aussagen der Brenner-Bevölkerung, nach offener Fremdenfeindlichkeit und brüchigen Stereotypen, nach fragenden, betroffenen und feigen Blicken von verantwortlichen Beamten in die Kamera, erweckt diese Tür einen beunruhigenden Anschein von Ordnung. Die bauliche Maßnahme entwirft dagegen die Skizze einer demokratischen Unordnung, in der geistige Blockaden, Ängste vor Veränderung und begrenzte Horizonte nicht unscheinbar in Containern wegsortiert werden, sondern als Teil eines gemeinsamen Resonanzraums unweigerlich aufeinandertreffen müssen. Das Kino wird Sprechhandlung.
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