Schockwellen - Tagebuch des Todes – Kritik
VoD: Ahnung statt Tatsachen. In Schockwellen - Tagebuch des Todes zeichnet Ursula Meier das fragmentarische Psychogramm eines Schülers, der seine Eltern ermordet. Gerade die Lücken, die sie dabei lässt, sind Ausdruck von großer Sorgfalt.

Auf dem Poster von Schockwellen - Tagebuch des Todes richtet ein junger Mann seine Waffe auf uns. Dabei fängt das Foto genau jenen Moment ein, in dem er abdrückt und sich das Mündungsfeuer so breit macht, dass sein Gesicht verdeckt wird. Wenn man davon ausgeht, dass ein Plakat nicht nur möglichst viele Blicke auf sich ziehen will, sondern auch im Geiste des Films gestaltet ist, dann wurde diese Absicht hier ebenso schlicht wie effektiv umgesetzt. Die Schweizerin Ursula Meier erzählt in ihrer neuen Regiearbeit vom Oberschüler Benjamin (Kacey Mottet Klein), der aus heiterem Himmel seine Eltern ermordet. Die eigentliche Tat ist allerdings nie zu sehen. Nur Fragmente, die sich um sie herum ereignen und die Vorstellung von ihr plastischer werden lassen: Momente kurz vor und nach dem Verbrechen, Unterhaltungen darüber oder ein gescheitertes Reenactment mit der Polizei.
Füreinander bestimmt, aber nicht gut füreinander

Wenn uns das Poster nun den Blick auf den Jungen verwehrt, dann, weil der Film genau das auch tut, weil er uns diese Figur nie ganz greifen lässt. Dabei spielt Meier schon im Titel mit dem Tagebuch-Motiv, das eigentlich das genaue Gegenteil erwarten lässt. Wenn Benjamin daraus liest, dann hören wir seine Gedanken und Beweggründe für die Tat, aber sie sind so irrational, dass sie unsere Neugier nicht stillen können. Dabei kokettiert die Regisseurin nicht einfach mit dieser Verweigerungshaltung, lässt sie uns vielmehr fast vergessen. Tagebuch des Todes enthält uns zwar wesentliche Dinge vor – etwa Details zu Benjamins Kindheit oder eine Konkretisierung seines psychischen Zustands –, schafft aber zugleich ein starkes emotionales Fundament, auf dem Ahnungen stärker wirken als Tatsachen. Wir können den gequälten Jungen nicht durchleuchten, aber wir sehen seine Wut, seine Angst, seinen Schmerz, das schwitzende Gesicht und den zitternden Körper.

Der Polizist, der im Fall ermittelt, findet bald heraus, dass die Französischlehrerin Esther (Fanny Ardant) Benjamin zum Schreiben motiviert und damit vielleicht auch indirekt zur Tag ermutigt hat. Damit wirft Tagebuch des Todes Fragen nach Schuld und Verantwortung in den Raum, die er jedoch nie zu beantworten gedenkt. Bezeichnenderweise verschwindet der Beamte bald wieder und überlässt den Film damit ganz den zwei Hauptfiguren. Wenig später sitzt der Junge dann im Gefängnis – und die einzige Bezugsperson ist nunmehr die von der Situation völlig überforderte Esther, die ihre Rolle nur widerwillig annimmt; weil von dem Jungen immer noch eine Gefahr ausgehen könnte, aber auch, weil sie selbst noch nicht ganz zu wissen scheint, welcher Natur dieses seltsame Verhältnis ist. Ist Esther für den Jungen nun eine Mentorin, Mutterersatz, eine Seelenverwandte oder gar ein love interest? Das Spannende ist, dass die Beziehung auch am Ende des Films noch ungeklärt bleibt. Was sich an Verbindendem abzeichnet, ist vor allem eine gemeinsame Liebe zur Literatur, aber auch die Einsamkeit, das Unverstanden-Sein und die Unfähigkeit, all die Chancen auf ein besseres Leben zu ergreifen. Der Film erzählt von zweien, die zwar füreinander bestimmt, aber nicht unbedingt gut füreinander sind.
Die Komplexität ganzer Biografien

Dass Meier konkrete Erklärungsansätze umschifft, ergibt sich zwangsläufig aus der Geschichte. Tagebuch des Todes gehört zu einer vierteiligen, von verschiedenen Regisseuren inszenierten Filmreihe namens Schockwellen, die sich Schweizer Kriminalfällen annimmt. Wenn es also Leerstellen in der Erzählung gibt, dann entspricht das vermutlich den Unklarheiten im realen Fall. Was wir nicht wissen, animiert jedoch auch nicht zu Spekulationen. Vielmehr wirken diese blinden Flecken wie ein elementarer Teil von Meiers behutsam distanzierter, aber doch unbedingt solidarischer Haltung gegenüber ihren Figuren. Sie umkreist sie, statt ihnen auf die Pelle zu rücken. Sie schafft eine sehr klare Vorstellung von ihrem emotionalen Dilemma, aber sie muss nicht jedes Geheimnis von ihnen einfordern. Und dieses Spannungsverhältnis ist auch der Grund, warum der Film zwar lediglich siebzig Minuten dauert und auch nur von zwei Figuren erzählt, dabei aber mitnichten wie ein Zwischenwerk oder eine Miniatur wirkt. Er konzentriert sich nur auf Ausschnitte, aber diese sind so sorgfältig gewählt, dass sie die Komplexität zweier ganzer Biografien erfassen.
Der Film steht bis 10.03.2023 in der Arte-Mediathek.
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