Der Nachtmahr – Kritik

VoD: Fernab von schnöder Mahnfabel und grauer Theorie. Akiz’ Horrorfilm löst im Betrachter ein Gefühl aus, das schmerzhaft und berauschend zugleich ist – und wahrt dabei die Ambivalenz und Freiheit, die wirklich intelligentes Kino auszeichnet.

Days of being wild

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Was beschreibt der Dichter William Blake mit den eben verlesenen Zeilen aus seinem Schöpfungsmythos „The Book of Urizen“, fragt die Lehrerin – Sonic-Youth-Gitarristin Kim Gordon – ihre Schüler. Unter ihnen befindet sich auch Tina (Carolyn Genzkow), die nach einer Ecstasy-Erfahrung von erschreckend realistischen Träumen und einem fremdartigen, aber gutmütigen Wesen heimgesucht wird. „A feeling?“, ist ihre unsichere Antwort. „Good or bad?“, lautet die Rückfrage der Lehrerin. Doch Tina will sich nicht so eindeutig festlegen. „Both?“ Diese Offenheit ist paradigmatisch für Akiz’ Der Nachtmahr, einen Horrorfilm, der vieles unausgesprochen, in der Schwebe lässt, nicht zuletzt die Frage, ob die Begegnung mit der Titelkreatur für die Protagonistin nun schlecht ist oder nicht vielleicht doch sogar positive Folgen haben könnte.

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Die kleine, träge, graue koboldartige Figur taucht eines Nachts in der Küche der ausladenden Villa von Tinas Eltern auf und weckt die Schülerin mit seltsamen Fressgeräuschen aus ihrem Schlaf. Alle Versuche, das Wesen anderen Menschen zu zeigen, scheitern, und so landet Tina schließlich in psychiatrischer Behandlung. Für die ratlosen Eltern ist der Fall klar: Ihre Tochter ist krank, wahrscheinlich gar suizidgefährdet, auch ihre Freunde distanzieren sich mehr und mehr von der vermeintlich Verrückten. Doch dann entdecken die Eltern den „Nachtmahr“ im Zimmer der Tochter, der daraufhin – wie einst E.T. – auf dem Operationstisch eines Forschungslabors landet …

Mit dem Nachtmahr auf den Lost Highway

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Auf den bloßen Inhalt reduziert, liefert Der Nachtmahr seine psychoanalytische Interpretation selbst mit: Tina, mitten in jener schwierigen Phase an der Schwelle zum Erwachsenwerden steckend, „experimentiert“ nachts auf orgiastischen Raves mit Drogen und Alkohol und findet tagsüber ein Zuhause vor, in dem sie sich wie eine Außerirdische fühlen muss. Also erschafft sie ein kleines, knotiges Wesen, das ihre eigene Unzulänglichkeit verkörpert: Dass sie mit diesem identisch ist, wird spätestens in dem Moment klar, in dem sie zu bluten beginnt, als das „Viech“ sich mit ihrem Rasierer verletzt. Der Angriff der Eltern auf den Eindringling weckt ihren Selbsterhaltungstrieb und stärkt die symbiotische Verbindung zu dem kleinen Wesen, das sie zu Beginn noch als Bedrohung empfunden hat. Am Ende fährt sie mit dem Nachtmahr zusammen auf dem „Lost Highway“ in die Nacht hinaus, ohne Ziel, Hauptsache weit weg von Eltern und falschen Freunden. Schon so betrachtet stellt Der Nachtmahr einen originellen, von seiner frontalen Inszenierung mit suggestiver Kameraführung und verstörender Tonspur getragenen psychologischen Horrorfilm dar. Aber Regisseur Akiz – ein Pseudonym, hinter dem sich Achim Bornhak verbirgt – hat mehr im Sinn: Der Nachtmahr lässt sich eben nicht lückenlos in wörtliche Bedeutung rückübersetzen, da bleibt ein Rest, der schon die eindeutige Kategorisierung als Horrorfilm erschwert. Was zum Beispiel hat es mit dem Handyvideo eines tödlichen Unfalls auf sich, das den Film als Klammer umschließt und ihn in ein Möbiusband verwandelt?

Es werde Körper!

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Eine dem Film vorausgehende Warnung vor heftigen Stroboskop- und Lichteffekten wird von der Aufforderung flankiert, ihn möglichst laut zu genießen: Schon hier wird klar, dass Der Nachtmahr an grauer Theorie und schnöder Mahnfabel nicht viel Interesse hat, mit seiner ganzen Inszenierung vielmehr darauf abzielt, selbst Körper zu werden – eben so wie die Ängste seiner Protagonistin sich in der Titelkreatur manifestieren, die passenderweise mithilfe wunderschöner Puppeneffekte zu mysteriösem Leben erweckt wird. Die Kameraführung erinnert an Dokumentarfilme oder das Found-Footage-Subgenre, zieht den Betrachter tief ins Geschehen hinein, andere Strategien haben den genau gegenteiligen, distanzierenden Effekt, etwa die Art, wie die erwachsenen Autoritätspersonen – die Eltern, der Therapeut – inszeniert werden: als bedrohliche Witzfiguren, die auf Tina hinabsehen wie auf ein krankes Haustier. Die Partys, auf die sie geht, greifen mit ihrer aggressiven Musik, verstörenden Lightshow und gezieltem Drogenkonsum den ganzen Körper (und eben den Zuschauer) an, doch das ist es ja auch, was den Kick ausmacht: die völlige Auflösung im Moment, das Doping der Sinne, die plötzlich alles noch viel intensiver erleben. Was für ein Abtörn, nach diesen Nächten im sterilen Wohlstand der Eltern aufzuwachen. Der Film lebt von diesen harten Kontrasten, dem Partyexzess, in den sich Tina und ihre Freunde auf der einen Seite stürzen, und der nagenden Ruhe des Alltags auf der anderen Seite, die nicht in der Lage ist, den inneren Tumult zu übertönen.

Starkes deutsches Genrekino ohne Bevormundung und Zeigefinger

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Akiz hat mit dem für nur 100.000 Euro völlig unabhängig produzierten Der Nachtmahr einen starken, eigenständigen und ungewöhnlichen Horrorfilm geschaffen, der irgendwo zwischen dem Körperhorror eines David Cronenberg und den Handlungsexperimenten eines David Lynch liegt, die Ästhetik von Korines Spring Breakers (2012) mit dem kruden Humor von Frank Henenlotter verbindet und sich gleichzeitig wie eine erwachsene, verstörende Paraphrase auf jugendfreie Creature Features von E.T. – Der Außerirdische (E.T. the Extra-Terrestrial, 1982) bis Bigfoot und die Hendersons (Harry and the Hendersons, 1987) lesen lässt. Ihm ist darüber hinaus aber auch etwas gelungen, womit sich gerade der deutsche Film erfahrungsgemäß sehr, sehr schwertut. Die Zeichnung der Jugendlichen und ihrer Probleme wirkt hier tatsächlich endlich einmal unaufgeregt und authentisch, kommt ganz ohne sozialpädagogisch verbrämten Paternalismus oder altkluge Relativierung aus, ohne den strafenden Blick des „vernünftigen“ Erwachsenen, der hinter allem nur Gefahren sieht und schon immer wusste, dass es böse enden wird. Aber auch den gegenteiligen Trugschluss, nach dem irgendeine anonyme „Gesellschaft“ oder eben die Eltern an allem schuld sind, vermeidet Der Nachtmahr dankenswerterweise, wahrt so die Ambivalenz und Freiheit, die wirklich intelligentes Kino auszeichnet. Was Akiz dem Zuschauer mit seinem Film sagen will, muss mithin jeder für sich selbst beantworten. Sicher ist, dass Der Nachtmahr ein starkes Gefühl im Betrachter auslöst, eines, das gleichermaßen berauschend wie schmerzhaft ist. Es gibt nicht allzu viele deutsche Genrefilme, denen Vergleichbares gelingt.

Der Film steht bis 12.07.2023 in der MDR-Mediathek.

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Kommentare


Felix

Diese Kritik gefällt mir. Das ist aber kein Horrorfilm, nur im Intro. Sobald man sich an das Wesen gewöhnt hat, spätestens als es den Kühlschrank leerfrisst, ist es vorbei mit dem Schrecken. Alleine der schwarzweiße Küchenboden macht jeden Versuch, hier Stimmung zu erzeugen, unmöglich. Mich hat der Film deshalb nicht überzeugt. Die Atmosphäre der Tagbilder ist praktisch nicht vorhanden, das Sounddesign viel zu aufdringlich, nie ist mal Ruhe, die meisten Schauspieler, vor allem die Eltern, sind überfordert und unglaubwürdig, der kaputttätowierte Hausmeister ist ein völliges no go (man sieht nur noch die Tattoos), die Lichtstimmung ist trostlos, langweilig und immer gleich (available Light). Gefilmt mit Weitwinkel wie eine RTL-Reportage, das ist kein Horrorfilm.
Der Regisseur hätte nicht der Bildhauer sein dürfen, das Wesen ist andauernd im Bild zu sehen und gibt alle seine Geheimnisse preis. Das könnte man noch erklären, sozusagen dass man sich ebenso damit anfreunden solle wie die Protagonistin, dann ist es aber erst recht kein Horrorfilm, aber auch nichts wirklich anderes. Der Film kann sich nicht entscheiden. Man erinnere sich an die Urfassung von Alien (1979): Das Monster ist kaum einmal zu sehen und man stirbt fast vor Angst. Hier ist es das schiere Gegenteil: Das Wesen nur am Anfang furchteinflößend, als man es gar nicht zu Gesicht bekommt...
Dem Werk hätte ein anderer Regisseur gutgetan, und natürlich ein zehnfaches Budget.






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