Das Deutsche Volk – Kritik

Tief humanistisch, radikal subjektiv und doch universell: Marcin Wierzchowkis Langzeit-Doku Das Deutsche Volk über die rassistischen Morde an Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov am 19.02.2020 in Hanau.

Auf dem Marktplatz in Hanau steht ein Denkmal für die Brüder Grimm, zwei berühmten Söhnen der Stadt. Die Bronzetafel darunter sagt, wer es gestiftet hat: „Das Deutsche Volk“. Seit ein paar Jahren kleben an dem Sockel immer wieder die Porträts von Said, Hamza, Ferhat, Sedat, Fatih, Gökhan, Vili, Mercedes und Kaloyan. Neun Kinder dieser Stadt. Am 19. Februar 2020 wurden sie unweit des Denkmals erschossen – von einem Mann, der sie nicht deutsch genug fand.

Marcin Wierzchowkis Dokumentarfilm erzählt die Geschichte dieser rassistischen Morde. Damals erschoss ein rechtsextremer Täter gezielt Menschen, die er für Ausländer hielt. Der Fall machte Schlagzeilen. Irgendwann zogen die News Crews wieder ab. Doch Wierzchowki blieb. Vier Jahre lang hat er mit seiner Kamera die Folgen des Attentats dokumentiert. Er war bei Beerdigungen dabei, Tatortbesichtigungen, Demonstrationen, Gedenkfeiern, Untersuchungsausschüssen. Hat Ohnmacht, Verzweiflung, Tränen und Wut gefilmt, halbherzige Anteilnahme und echte Betroffenheit. Und auch den tiefen Riss, der sich seit dem Attentat durch die Gesellschaft zieht.

Sensibel, schwer erträglich und genau beobachtet

Mit seiner sensiblen, genau beobachtenden Langzeit-Doku verleiht er vor allem den Angehörigen der Opfer eine Stimme. Nach dem ersten Schock macht sich unter den Familien der Eindruck breit, dass die Behörden den Fall möglichst schnell zu den Akten legen wollen. Der Todesschütze hatte sich nach dem Anschlag selbst getötet. Also Fall erledigt? Dabei gibt es viele offene Fragen. Da ist das rassistische Traktat, das der Mörder vor der Tat verschickte. Warum wurde der Bedrohung nicht nachgegangen? Warum funktionierte in der Tatnacht der Polizei-Notruf nicht? Warum war der Fluchtweg in dem Lokal versperrt, in dem sechs Menschen starben?

Der Film gibt darauf keine schnellen Antworten. Wir sehen das Geschehen aus dem Blickwinkel der Angehörigen. Menschen, deren Leben unverschuldet auf den Kopf gestellt wurden und die trotzdem für jedes Stückchen Information kämpfen müssen. Ein Vater erzählt unter Tränen, wie er auf der Suche nach seinem Sohn von Beamten brüsk zurückgewiesen wurde. Dabei lag sein totes Kind ganz in der Nähe im zerschossenen Auto hinter der Polizeiabsperrung. Erst Stunden später erfuhr die Familie davon – nicht von der Polizei, sondern aus den Medien. Ein anderer beschreibt, wie er erst eine Woche später die Leiche seines Sohnes sehen konnte, verstümmelt durch eine Obduktion, der die Eltern nie zugestimmt hatten. Wierzchowski lässt solche Statements, die von strukturellem Rassismus sprechen, unkommentiert stehen. Es gibt kein moderierendes Voice-Over, keine um Objektivität bemühte Gegendarstellung aus der Sicht der Polizei. Der Film bleibt radikal subjektiv. Dass er ganz in Schwarzweiß gehalten ist, macht ihn irgendwie noch trauriger, verleiht ihm aber auch eine universellere, zutiefst humanistische Dimension.

Dann lasst das Denkmal doch bleiben!“

Die Kamera ist mal dicht dran an den Gesichtern, dann wieder hält sie Distanz und zeigt die Situation in langen Totalen. So werden schon durchs Framing die tiefen Gräben sichtbar, die das Attentat in der Stadtgesellschaft erzeugt. Wir sind bei einer Ratssitzung, die Offiziellen verschanzen sich hinter großen Konferenztischen, die Angehörigen sitzen weit weg auf der anderen Seite. Als der Bürgermeister verkündet, für ein Opfer-Denkmal auf dem Marktplatz werde es keine Mehrheit geben, schreit plötzlich eine Mutter in den Saal hinein: „Dann lasst das Denkmal doch bleiben. Es wäre mir sogar lieber. Ich hasse Hanau.“ Nach der Ohnmacht kommt die Wut.

Es sind solche Bilder, die den Film manchmal schwer erträglich machen. Zermürbte, vom Schmerz gezeichnete Eltern, die an der kalten Wand der Bürokratie abprallen. Fleißige Bürger, die bis zu dem Attentat glaubten, gut integriert zu sein, um dann festzustellen, dass sie zum „deutschen Volk“ doch nicht dazugehören. Wierzchowki filmt auch Begegnungen mit Politkern. Er ist dabei, wenn Innenministerin Nancy Faeser bei einer Gedenkfeier Hinterbliebene umarmt oder Bundespräsident Steinmeier eloquente Reden hält. Doch immer bleibt diese Kluft. Trost finden die Angehörigen nur im gemeinsamen Kampf gegen das Vergessen, etwa wenn sie mit Hilfe des Londoner Recherchekollektivs Forensic Architecture den Tathergang rekonstruieren lassen und mit den erdrückenden Beweisen einen zweiten Untersuchungsausschuss erzwingen.

Wie wichtig, wie notwendig dieser Film gerade jetzt ist, muss man gar nicht mehr extra betonen. Ein Blick in die Nachrichten reicht, wo es gefühlt nur noch um gefährliche Ausländer, illegale Zuwanderung, schnellere Abschiebung geht. Seit den Anschlägen in Halle, Augsburg und München ist der Ton noch schriller geworden. Die AfD triumphiert. Menschen mit Migrationsgeschichte, die mitunter schon seit Generationen hier leben, werden pauschal als unerwünschte Fremde abgestempelt. Rechtsradikale fühlen sich in ihrem rassistischen Weltbild bestätigt. Dabei hätten doch schon der Brandanschlag in Mölln, die Morde der NSU-Bande oder auch das Attentat auf Walter Lübcke ein Weckruf sein sollen, wohin diese entmenschlichende Hassideologie führt. Das Deutsche Volk erinnert nun noch einmal sehr eindringlich daran.

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