Cold Case Hammarskjöld – Kritik

Filmfest München 2019: Wurde der frühere UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld ermordet? Und ist das inzwischen nicht relativ egal? Mads Brüggers Doku gibt Antworten, die viel größere Gräuel andeuten.

Geständnis nach etwa einer Stunde Laufzeit: „Ehrlich gesagt interessiert es mich gar nicht besonders, ob Hammarskjöld nun Opfer eines Komplotts wurde oder ob sein Flugzeug tatsächlich wegen eines Pilotenfehlers abstürzte.“ Regisseur Mads Brügger spricht in einer Szene das aus, was viele Zuschauer vermutlich denken: Wen interessiert heute noch, ob es ein Attentat war oder nicht – das Ganze ist fast 60 Jahre her, und ein Großteil der derzeitigen Weltbevölkerung hat noch nie von dem Typen gehört.

Natürlich kokettiert Brügger aber nur mit seiner angeblichen Nonchalance. Der Mann hat sechs Jahre lang an dieser Geschichte recherchiert, ist kreuz und quer durch Afrika gereist, hat Archive durchwühlt und schweigsame Paramilitärs zum Reden gebracht. Vielleicht ist die schiere Menge des dabei entstandenen Materials der Grund, warum die erste Stunde dieses Films nicht ganz das Niveau von Brüggers vorherigen Dokus erreicht: Die journalistische Detektivarbeit verheddert sich in Nebensträngen, bald schon verliert man als Zuschauer den Überblick über die Personen und Zusammenhänge – und Brüggers Idee, die Erkenntnisse nicht im Voice-over-Modus zu präsentieren, sondern im Dialog mit an alten Schreibmaschinen sitzenden Sekretärinnen, wirkt gestelzt und unauthentisch. In dieser ersten Hälfte ist Cold Case Hammarskjöld – dank der satirischen Ader des Regisseurs, seiner Selbstinszenierung und der Frage „Komplott oder Verschwörungstheorie?“ – gutes Infotainment, aber nicht viel mehr.

Versuchter Völkermord per HIV?

Doch dann folgt Brüggers Geständnis – und der Film nimmt eine scharfe Wende. Diese zweite Hälfte ist ein rares Kinoerlebnis: Niemand im Saal tuschelt, keine Popcorntüte raschelt, kein Handy leuchtet – es herrscht Schockstarre. Denn gegenüber dem, was Cold Case Hammarskjöld hier möglicherweise aufdeckt, ist die Frage nach den Todesumständen des UN-Generalsekretärs tatsächlich eine Petitesse. Dass die alten Kolonialmächte die Unabhängigkeit afrikanischer Staaten gezielt behinderten – okay, nichts Neues. Dass die CIA wahrscheinlich in den Tod Hammarskjölds verwickelt war – geschenkt, gab es anderswo schon öfter. Dass Großbritannien in Afrika wohl White-Supremacy-Milizen finanzierte, wie mehrere Interviewpartner Brüggers andeuten – leider auch kein großer Schock mehr.

Aber dass laut mehreren Zeitzeugen massenweise „Impfungen“ an schwarzafrikanische Bürger verteilt wurden, in den Spritzen aber tatsächlich das HI-Virus lauerte – dabei wird einem dann schlecht im Kinosaal. Bewiesen sind diese monströsen Behauptungen bislang nicht, es könnte sich also auch um eine Verschwörungstheorie handeln. Im Film geht diese These allerdings nicht nur aus Dokumenten der Apartheid-Söldnertruppe SAIMR (South African Institute for Maritime Research) hervor, sie wird auch in einem ausführlichen Interview von Brüggers Kronzeugen vorgetragen, dem inzwischen aus Angst vor Racheakten untergetauchten SAIMR-Kämpfer Alexander Jones. Brügger enthüllt damit womöglich – quasi als Abfallprodukt seiner Hammarskjöld-Recherchen – einen versuchten Völkermord unter dem Deckmantel des Arztkittels.

Schweigen in Washington und London

Stand bei der subversiven Nordkorea-Doku The Red Chapel (Det røde kapel, 2009) noch das satirische Element im Vordergrund, so ist Brügger bereits mit seiner grandiosen Guerilla-Style-Arbeit The Ambassador und nun erst recht mit Cold Case Hammarskjöld zum Investigativ-Journalismus übergegangen, der zwar humoristisch präsentiert wird, bei dem einem aber letztlich oft das Lachen im Halse erstickt. Brügger ist dabei so ehrlich, dass er seine eigenen Erkenntnisse infrage stellt. Vieles in diesem Film lässt sich nicht wasserdicht beweisen, Brügger behauptet das auch nicht, sondern legt der Öffentlichkeit einfach all das hin, was er herausgefunden hat. Er liefert Indizien, beansprucht aber nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein. Für die Deklaration der Wahrheit sind andere zuständig: Eine Kommission der UN, die den Fall Hammarskjöld derzeit neu aufrollt, hat bereits mit Brügger und dessen Informanten gesprochen. Ob die Kommission den Fall wirklich lückenlos aufklären kann, ist aber eine andere Frage – sowohl Großbritannien als auch die USA weigern sich, den Ermittlern Einblick in relevante Dokumente zu gewähren.

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